Vorlesesoftware macht Texte für Blinde hörbar, spezielle Apps bieten Lernmöglichkeiten für Menschen mit Autismus, und Videotelefonie ermöglicht Telefonate in Gebärdensprache. Wie technische Entwicklungen mehr Menschen zur selbstbestimmten Teilhabe verhelfen können, ist Thema der Studie „Assistive Technologien für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in Gesellschaft, Bildung und Arbeitsmarkt“ unter Federführung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Ein Ergebnis: Die Technik zur Inklusion in die Arbeitswelt ist da – aber oft fehlen noch Informationen über die Einsatzmöglichkeiten.
Die meisten Menschen mit Behinderungen stehen bewährten und neuen Technologien, die ihnen ein selbstständigeres Leben ermöglichen, positiv und offen gegenüber, zeigt die Studie. „Die Technik alleine ist aber nicht alles, es ist wichtig, gesellschaftliche und politische Optionen zu entwickeln, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen ausgerichtet sind“, sagt die Gesundheitswissenschaftlerin Maria João Ferreira Maia vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am KIT. Das Institut hat die Bedeutung Assistiver Technolgogien (AT) für die Inklusion von Blinden und Sehbehinderten, Gehörlosen und Hörbehinderten sowie Menschen mit Autismus im Auftrag des Wissenschaftsausschusses STOA (Science and Technology Options Assessment) des Europäischen Parlaments untersucht.
Informations- und Beratungsbedarf bei Unternehmen, Ärzten und Nutzern
Ein wichtiger Gradmesser für die selbstbestimmte gesellschaftliche Teilhabe ist die Inklusion in die Arbeitswelt. AT können Menschen mit Behinderungen den Zugang zur Erwerbstätigkeit auf vielfältige Weise ermöglichen. Eine Braille-Tastatur am Computer ermöglicht Blinden die Texteingabe über die Punktschrift, und Menschen mit Autismus können eine virtuelle Umgebung als Lernfeld nutzen, um die menschliche Interaktion mit Kollegen zu üben. „Die Technik ist da, aber noch fehlt in vielen Unternehmen die Information über ihre Einsatzmöglichkeit“, sagt Dr. Linda Nierling, Sozialwissenschaftlerin und Koordinatorin des Forschungsprojekts am ITAS. Mangelndes Wissen könne dazu führen, dass ein Betrieb die Einstellung eines Menschen mit Behinderung gar nicht erst in Betracht zieht. Grundsätzlich stellt die Studie fest, dass eine umfassende Änderung der gesellschaftlichen Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderung Voraussetzung für eine barrierefreie, inklusive Gesellschaft ist. Informations- und Beratungsbedarf sieht die Untersuchung auch bei Medizinern und den Nutzern selbst. Sie empfiehlt, dass speziell ausgebildete AT-Fachleute Ärzte und Menschen mit Behinderungen beraten, um angesichts der Vielfalt technischer Assistenzen die individuell hilfreichste zu wählen. „Die Unterschiede zwischen medizinischen, speziell für Menschen mit Behinderungen entwickelten technischen Hilfen und allgemein genutzten Geräten verschwimmen immer mehr, allerdings dauert der Zulassungsprozess für Medizinprodukte erheblich länger“, sagt Nierling. Viele Erwartungen richteten sich auf topaktuelle und künftige Forschungserfolge. Doch könnten schon jetzt vorhandene Technologien effektiver genutzt werden, indem die Bedienbarkeit aller Verbraucherendgeräte vereinfacht wird, wie es der Entwurf einer europäischen Richtlinie für barrierefreie Produkte und Dienstleistungen – der European Accessibility Act – vorsieht.
Jeweils vorbildliche Beispiele staatlicher Regulierungen für die Förderung der Integration mit Hilfe von AT hat die Studie in Schweden, Ungarn, Portugal und Deutschland – repräsentativ für die Länder der EU – betrachtet. In vier Zukunftsszenarien zeigt die Untersuchung, wie sich durch unterschiedlich ausgestaltete politische Rahmenbedingungen die Gesellschaft mehr oder weniger barrierefrei entwickeln kann. Dabei stellen die Szenarien beispielsweise eine inklusive Gesellschaft einer solchen gegenüber, in der Vorurteile vorherrschen, und betrachten unterschiedliche Grade der technologischen Weiterentwicklung, die wirtschaftliche Situation und die Rolle des Staates beim Bereitstellen und Finanzieren von AT. „Es ist ein Appell an die Politik: Im besten Fall wird Barrierefreiheit künftig überall selbstverständlich sein, in Gebäuden, beim Bedienen eines Fahrkarten- oder Geldautomaten, im Bildungssystem und am Arbeitsplatz“, betonen die Wissenschaftlerinnen des ITAS.
Über die Studie
Im Mittelpunkt des mit 140.000 Euro durch das Europäische Parlament geförderten Beratungs- und Forschungsprojektes stand die Frage, wie technische Hilfsmittel dazu beitragen können, mehr Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft, ins Bildungssystem und in den Arbeitsmarkt einzubeziehen. Interviews mit Personen, die in Behindertenorganisationen aktiv sind oder selbst Behinderungen haben, waren ebenso Teil der Studie wie Online-Umfragen und der Austausch mit Betroffenen und fachkundigen Experten in einem Workshop.
Weitere Informationen: https://www.itas.kit.edu/projekte_nier16_asstech.php
Weitere Informationen zum Wissenschaftsjahr 2018 – Arbeitswelten derZukunft: www.wissenschaftsjahr.de
Weitere Materialien:
Video „Assistive Technologies“: https://youtu.be/omjVM1lwkII
Hören Sie hier auch ein Radiointerview zum Wandel der Arbeitswelt durch
Digitalisierung:
Als „Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft“ schafft und vermittelt das KIT Wissen für Gesellschaft und Umwelt. Ziel ist es, zu den globalen Herausforderungen maßgebliche Beiträge in den Feldern Energie, Mobilität und Information zu leisten. Dazu arbeiten rund 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf einer breiten disziplinären Basis in Natur-, Ingenieur-, Wirtschafts- sowie Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Seine 22 800 Studierenden bereitet das KIT durch ein forschungsorientiertes universitäres Studium auf verantwortungsvolle Aufgaben in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft vor. Die Innovationstätigkeit am KIT schlägt die Brücke zwischen Erkenntnis und Anwendung zum gesellschaftlichen Nutzen, wirtschaftlichen Wohlstand und Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das KIT ist eine der deutschen Exzellenzuniversitäten.