Auf der Kippe
Mit dem Klimawandel drohen massive Veränderungen in unserer Welt – der Amazonas-Regenwald schrumpft, das Eis in der Antarktis schmilzt, der Atlantik verändert seine Strömung. In diesem Zusammenhang sprechen Forschende auch von Klimakipppunkten. Diese Kipppunkte markieren kritische Schwellenwerte, die durch die klimatischen Veränderungen überschritten und nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Die Folgen des Überschreitens eines Kipppunkts sind unaufhaltsame, extreme regionale und globale Klimaveränderungen. Forschende des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) beschreiben anhand dreier Beispiele, was das konkret bedeutet.
„Die Klimakipppunkte kann man sich wie ein Kartenhaus vorstellen. Der komplexe Zusammenhalt der Karten sorgt dafür, dass das Haus stabil bleibt und seine Funktion erhält. Zieht man einzelne Karten, steht das Haus zwar noch, verliert aber seine Funktion – bis es letztlich instabil wird und zusammenbricht“, erklärt Professorin Nadine Rühr vom Institut für Meteorologie und Klimaforschung Atmosphärische Umweltforschung (IMKIFU), dem Campus Alpin des KIT in Garmisch-Partenkirchen.
„Wenn die Belastung der globalen Klimasysteme dauerhaft zunimmt, kommt es zum Umkippen. Das kann weitreichende Folgen für Mensch und Umwelt haben“, so Rühr. Insgesamt 16 Teilelemente des Erd-Klimasystems wurden vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung identifiziert, die bereits instabil werden, ihre Funktion verlieren und auf einen möglichen Kipppunkt zusteuern.
Küstenstädte durch Abschmelzen des Westantarktischen Eisschilds bedroht
Eines dieser Teilelemente ist der Westantarktische Eisschild, der stellenweise so dick ist wie die Alpen hoch sind. Durch sein Abschmelzen infolge der Erderwärmung markiert er einen möglichen Kipppunkt im Klimasystem. „Der Kipppunkt betrifft unter anderem die Gletscher Thwaites und Pine Island der Westantarktis“, erläutert Professor Andreas Fink vom Institut für Meteorologie und Klimaforschung Troposphärenforschung (IMKTRO) des KIT. Der Thwaites-Gletscher mit einer Fläche so groß wie Florida stabilisiert zusammen mit dem Pine-Island-Gletscher den Westantarktischen Eisschild.
„Der untere Rand des Inlandeises liegt überwiegend unterhalb des Meeresspiegels. Die daran anschließenden Schelfeiszungen der Gletscher sind dort zur Stabilisierung mit knapp unter dem Meeresspiegel liegenden ‚Bergrücken‘ verbunden. Durch das wärmer werdende Wasser schmelzen die Schelfeiszungen jedoch untermeerisch, schwimmen auf und zerbrechen innerhalb weniger Jahre“, erklärt Fink. Dadurch sei die stabilisierende Wirkung des Schelfeises, das die Westantarktis umgibt, nicht mehr gegeben und weitere Teile des Inlandeises könnten innerhalb von wenigen Jahren wegfließen und schmelzen.
„Der Kipppunkt des Westantarktischen Eisschilds könnte unmittelbar bevorstehen – mit katastrophalen Folgen für große Städte am Meer“, so Fink. Mit dem Zerfall des Thwaites-Gletschers und weiteren Teilen des Westantarktischen Eisschildes könnte sich der Meeresspiegel um drei Meter anheben. „Ein beschleunigtes Abschmelzen der Westantarktis scheint unumgänglich. Wie stark der Zerfall des gesamten Westantarktischen Eisschildes und der totale Meeresspiegelanstieg sein wird, ist ungewiss. Sicher ist aber: Jedes Zehntelgrad weniger Erderwärmung würde dabei helfen, das Schmelzen von vielen Kubikkilometern Eis zu verhindern und den Meeresspiegelanstieg zu dämpfen“, sagt Fink.
Abschwächung atlantischer Strömungssysteme hätte Auswirkungen auf das globale Klima
Der Zusammenbruch des Westantarktischen Eisschilds könnte, ebenso wie eine starke Zunahme der Erderwärmung, ein weiteres Teilsystem abschwächen oder im Extremfall zum Zusammenbruch bringen: die Atlantische Umwälzströmung. Diese gehört zu den wichtigsten Zirkulationssystemen der Meere.
„Die Atlantische Umwälzströmung ist ein Teil der thermohaline Zirkulation. Diese kann man sich als riesiges Förderband im Ozean vorstellen, das unter anderem Wärme und Nährstoffe zwischen allen großen Ozeanen unseres Planeten transportiert“, erläutert Professor Joaquim Pinto vom IMKTRO. Hierbei wird warmes und kaltes Wasser in verschiedenen Tiefen des Atlantiks umgewälzt. Warmes Wasser fließt entlang der nordamerikanischen Küste in der Nähe der Meeresoberfläche nach Norden und in östlicher Richtung unter anderem mit dem Golfstrom nach Nordeuropa, wo es für ein mildes Klima sorgt. Im Norden wiederum fließt kaltes Wasser in tieferen Wasserschichten zurück in den südlichen Atlantik.
„Durch die Erderwärmung stellten Forschende in den letzten Jahrzehnten eine Abschwächung der thermohalinen Zirkulation und damit der Atlantischen Umwälzströmung fest“, sagt Pinto. Setzt sich diese Abschwächung fort oder bricht die Umwälzströmung gar gänzlich zusammen, hätte dies enorme Auswirkungen für Europa sowie auf globaler Ebene. „So könnten beispielsweise die Temperaturen in Europa erheblich sinken, die Wasserstände an der US-Küste ansteigen und eine Verschiebung der Regengürtel im südlichen Afrika stattfinden, was zu erheblichen Veränderungen des regionalen Wetters und Klimas führen und möglicherweise das Leben und die Existenz von Millionen von Menschen gefährden könnte“, so Pinto.
Amazonas: Dem einzigartigen Lebensraum droht der Funktionsverlust
Dass all dies nicht nur graue Theorie ist, zeigt das Beispiel des Amazonas-Regenwaldes, der eine Schlüsselrolle für die Stabilisierung des Weltklimas besitzt. „Ein wichtiger Faktor ist die Rodung des Regenwaldes. Durch sie gelangen nicht nur pro Jahr Tonnen an Kohlenstoffdioxid zusätzlich in die Atmosphäre, vor allem wird der Wald kleiner“, erläutert Nadine Rühr. „Da er eine gewisse Größe braucht, um sich durch Niederschlag selbst bewässern und damit erhalten zu können, könnte dieses System durch den Rückgang des Waldes irgendwann zum Erliegen kommen.”
Die Ursache davon: Wasser verdunstet zwar aus den noch vorhandenen Bäumen, es regnet aber an anderer Stelle ab oder fällt auf bereits gerodete Flächen. Der Amazonas-Regenwald bekommt dadurch nicht mehr genug Wasser und wird zur Steppe oder sogar Wüste. „Zusätzlich führt die Erderwärmung zu häufigeren Dürreperioden. Darauf reagieren viele Bäume sehr sensibel, werden krank oder sterben ab“, so Rühr. „Eine Veränderung der Zusammensetzung der Baumarten können wir jetzt schon beobachten: Bäume, die weniger trockenresistent sind, bilden sich zurück, während trockenresistentere Bäume auf dem Vormarsch sind.“
Wann es im Amazonas-Regenwald zu einem möglichen Kipppunkt kommen könnte, sei schwer vorherzusagen. „Der Klimakipppunkt ist bisher noch nicht erreicht, allerdings werden symbolisch immer mehr Karten aus dem Kartenhaus gezogen und es beginnt zu wackeln“, sagt Rühr. Die Auswirkungen wären fatal, sollte der Amazonas-Regenwald wirklich kippen: Eine einzigartige Artenvielfalt würde verloren gehen, der Wald könnte nicht mehr als riesiger Kohlenstoffspeicher CO2 aus der Luft aufnehmen und es könnten Steppenlandschaften entstehen, die das Weltklima aus dem Takt bringen und zu einer weltweiten Zunahme von Dürren und Überschwemmungen führen.
Trotzdem sei es noch nicht zu spät. „Wenn wir es schaffen, die Abholzung in den Griff zu bekommen und Flächen zu regenerieren, sind wir auf dem richtigen Weg. Zudem sollten wir die Faktoren unseres persönlichen Lebensstils hinterfragen, die den Druck auf den Amazonas erhöhen und auch den Klimawandel verstärken“, so Rühr. Dazu gehöre etwa Fleischkonsum. Das Futtersoja aus dem Amazonasgebiet trage erheblich zur Zerstörung des Waldes bei, ebenso wie der Anbau von Ölpalmen für die Produktion von Palmöl. „Allein, dass es diesen möglichen Kipppunkt gibt, sollte uns den nötigen Respekt einflößen, dass wir verstehen: Wir müssen alles dafür tun, um dieses System zu erhalten. Denn wenn es zu spät ist, kann man das Kartenhaus nicht mehr zusammensetzen.“
Aileen Seebauer, 14.02.2024
Die Ausgabe 2023/4 des Forschungsmagazins lookKIT beschäftigt sich mit dem Schwerpunktthema des Wissenschaftsjahrs 2023.
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