Gut beraten – auch in Krisenzeiten
Parlamentarische Technikfolgenabschätzung (TA) ist in vielen Ländern weltweit eine eigene Form der wissenschaftlichen Politikberatung. In Deutschland besteht das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) seit über 30 Jahren. Im Aufgabenkatalog parlamentarischer Technikfolgenabschätzung steht die frühzeitige, differenzierte Wahrnehmung und Bewertung von Technikrisiken und -chancen ganz oben – ebenso wie der Austausch mit gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren. Was aber, wenn, wie jetzt, handfeste Krisen ins Haus stehen? Wie kann TA helfen, wenn sich – von der Energieversorgung über die Erderwärmung bis zur Bedrohung durch Kriege – hinter beherrschbar Geglaubtem Abgründe auftun?
Nach Antworten auf diese Fragen suchte die Konferenz der europäischen Vereinigung von Institutionen der parlamentarischen Technikfolgenabschätzung (EPTA), die im Herbst 2022 in Berlin stattgefunden hat. Auf Einladung des Deutschen Bundestages sowie des vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) betriebenen TAB kamen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 19 Ländern ins Marie-Elisabeth-Lüders-Haus im Berliner Regierungsviertel. Gemeinsam mit Politikerinnen und Politikern diskutierten sie die Rolle parlamentarischer Technikfolgenabschätzung in den gesellschaftlichen und technologischen Umbrüchen unserer Zeit.
Expertise für evidenzbasierte Politik
„Technikfolgenabschätzung ist wichtiger als jemals zuvor“, unterstrich Kai Gehring, Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages. Wissenschaftliche Beratung zu komplexen Zusammenhängen und neuen technologischen und soziotechnischen Entwicklungen sei für politische Entscheidungsträgerinnen und -träger in Zeiten multipler Krisen deshalb so bedeutsam, weil sich die „großen Herausforderungen und Disruptionen nur mit evidenzbasierter Politik lösen lassen". Neben der Bewältigung akuter Krisen ginge es auch darum, Forschung und Innovation auf eine Weise zu fördern, die unsere Gesellschaft kreativer, robuster und nachhaltiger macht.
Krisengespräche: Gemeinsam mit Abgeordneten des Deutschen Bundestages diskutierten die Forschenden, wie TA dazu beitragen kann, technologische und gesellschaftliche Disruptionen sach- und menschengerecht zu steuern:
Parlamente befähigen, Zukunft zu gestalten
Was die Technikfolgenabschätzung besonders in Krisenzeiten beitragen kann, erörterte Professor Armin Grunwald: Orientierungswissen bereitstellen, indem Chancen und Risiken von Technologien frühzeitig erkannt werden. TA könne zudem Verletzbarkeiten und Instabilitäten identifizieren sowie Handlungsoptionen analysieren. „Technikfolgenabschätzung muss die Parlamente dabei unterstützen, aktiv beziehungsweise proaktiv über die Zukunft nachzudenken, um die Zukunft zu gestalten und nicht nur zu reagieren, wenn der Schaden bereits angerichtet ist“, konstatierte Grunwald, der neben dem Tab auch das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am KIT leitet und dort Technikphilosophie lehrt.
„Die prospektive Perspektive muss mehr und mehr gefördert werden, damit wir mit der Verletzlichkeit der modernen Gesellschaftssysteme besser umgehen können und der Situation, in der wir uns befinden, besser gerecht werden.“
Armin Grunwald, Leiter des TAB
Im Angesicht der Disruption
Wie also umgehen mit jenen grundlegenden, teilweise zerstörerischen Veränderungen, die man Disruption nennt? Wie widerstandsfähig etwa sind kritische Infrastrukturen wie Kommunikations- oder Energieversorgungsnetze? Was bedeutet es, wenn Künstliche Intelligenz die Entwicklung und den Einsatz militärischer Waffen prägt? Welche Rolle spielt Technik im Umgang mit dem Klimawandel und dem drohenden Kollaps natürlicher Lebensräume?
Mit zahlreichen Beispielen aus der internationalen Forschungs- und Beratungspraxis gingen die internationalen Expertinnen und Experten in Vorträgen und Podiumsdiskussionen diesen Fragen nach, stellten Hintergründe vor, analysierten Bedrohungsszenarien, erörterten die Dringlichkeit unterschiedlicher Handlungsoptionen und gingen auf Fragen der politischen Akteurinnen und Akteure ein.
Wünsche an die Technikfolgenabschätzung
„Wichtig für uns in der Politik ist“, sagte Kai Gehring, „dass wissenschaftliche Politikberatung unabhängig ist und nicht interessengeleitet.“ Weitere Erwartungen benannten die Abgeordneten in der Konferenz-Schlussrunde „Vom Rat zur Tat“: eine frühe Identifizierung sich abzeichnender Probleme, eine neutrale, sachliche und ausgewogene Darstellung auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie eine „lautere“ Öffentlichkeitsarbeit für die oft sehr guten TA-Arbeiten.
Darüber hinaus, so die Abgeordneten, solle TA darüber informieren, welche Kosten mit bestimmten Handlungsweisen verbunden sind – ebenso wie die Kosten des Nichthandelns. Auch sollten Politikerinnen und Politikern Strategien an die Hand gegeben werden, bestehendes Wissen zu sortieren und nutzbar zu machen. Eine TA, die all dies leistet, könne die Politik befähigen, besser auf Worst-Case-Szenarien vorbereitet zu sein. Umgekehrt gelte es, die Wissenschaft vor radikalen gesellschaftlichen Strömungen zu schützen und Europa als Kontinent der Wissenschaftsfreiheit zu bewahren.
Zugleich, forderte Gehring zum Abschluss der EPTA-Konferenz, müsse die Politik sich auch selbst in die Pflicht nehmen: „Man stelle sich mal vor: Wie wäre heute es ums Weltklima bestellt, wenn man den Klimaforscherinnen und -forschern vor 40 Jahren nicht nur zugehört, sondern sie auch erhört hätte und seine Politik darauf ausgerichtet hätte, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Industrienationen?“
Bernd Stegmann, 16.12.2022
Der auf Initiative des TAB erstellte Bericht enthält Beiträge europäischer Technikfolgenforscherinnen und -forscher zum Umgang mit Disruptionen, etwa am Beispiel „Kritische Infrastrukturen“.
Zum BerichtDas vom ITAS betriebene Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag bietet dem Parlament seit über 30 Jahren neutrales Orientierungswissen und Handlungsperspektiven für eine vorausschauende Gestaltung des soziotechnischen Wandels.
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