IPv6 : „Es hat keinen Sinn, das alte IPv4-Netz mit Krücken am Leben zu erhalten“

Interview mit PD Dr.-Ing. Roland Bless vom Institut für Telematik am KIT

Roland Bless „Dem Internet gehen die IP-Adressen aus“, liest man in den Medien. Was genau bedeutet das?

Bei IPv4 wurde damals das 32-Bit-Format für die Adresslänge festgelegt, damit lassen sich maximal ca. 4 Milliarden Adressen unterscheiden. Das klingt zunächst viel, doch diese Adressen sind blockweise und hierarchisch auf verschiedene Netze und Unterstrukturen verteilt. Außerdem wird bei der Zuteilung ein gewisser Überschuss  mit eingerechnet, damit man diese Netze erweitern kann. Doch irgendwann kommen sie an ihre Kapazitätsgrenzen, so dass keine weiteren Endgeräte mehr daran angeschlossen werden können. Jedes über das Internet global erreichbare Endgerät benötigt mindestens eine solche Adresse. Doch das Internet wächst stetig und der Adressbedarf dementsprechend mit. Dass die Adressen in diesem Jahr vollständig zur Neige gehen werden, ist schon seit geraumer Zeit bekannt. Die Hochrechnungen, die bereits 1994 in der Internet Engineering Task Force (IETF) dazu gemacht worden sind, prognostizierten, dass dieses Problem zwischen 2005 und 2011 eintreten wird. Kurz zusammengefasst kann man sagen: Dass jetzt die IPv4-Adressen ausgehen, bedeutet, dass das Internet zwar weiterhin funktioniert, aber nicht mehr weiter wachsen kann. Mit IPv6 kann es wieder wachsen und  es können mehr Geräte im IPv6-Internet vernetzt werden.

 

Wozu braucht man denn überhaupt so viele IP-Adressen? Es ist von 340 Sextillionen die Rede, das sind Zahlen mit 36 Nullen.

Das neue Internetprotokoll hat einen 128-Bit-Adressraum, der sehr viel größer ist als der 32-Bit-Raum. So kann auch Kleinstgeräten eine eigene IP-Adresse zugeordnet werden. Wozu man so viele Adressen braucht, lässt sich heute noch nicht sagen. Doch der Trend geht dahin, dass bald jeder ein Mobiltelefon bzw. Smartphone oder ein anderes Gerät mit sich herumträgt, das internetfähig ist. Selbst moderne Fernseher, Blu-Ray-Player oder kleinste portable Spielkonsolen haben heute schon eingebaute drahtlose Netzwerkschnittstellen, über die sie kommunizieren können. Ein enormer Adressenbedarf entsteht zudem durch die stark zunehmende Rechner-Virtualisierung.  Natürlich gibt es auch in Zukunft Geräte, die nicht automatisch über das Internet erreichbar sein sollen, dennoch ist eine eindeutige Bezeichnung, also eine eindeutige Adresse für das Gerät nötig – das kann das heutige IPv4-Protokoll nicht mehr leisten. Momentan müssen sich mehrere solche Geräte eine öffentliche Adresse teilen und bekommen daher mit Hilfe eines Adressumsetzers oftmals nur eine private IP-Adresse zugewiesen, die global nicht eindeutig ist. Dies verursacht zahlreiche Probleme: Zum Beispiel verhindern die Umsetzungsmechanismen den Einsatz bestimmter Anwendungen und große Unternehmen mit sehr vielen Kunden haben Schwierigkeiten, mit dem ebenfalls beschränkten privaten Adressraum auszukommen. Sie müssen sich derzeit mit verschiedenen, komplizierten Zwischenlösungen behelfen. Das neue Internetprotokoll bietet die Möglichkeit, alles eindeutig zu identifizieren und global erreichbar zu machen.

Bedeutet das, dass man beispielsweise seinen Videorekorder aus dem Urlaub in Hawaii steuern könnte?

Ja, das wäre ein denkbares Szenario. Allerdings stellen sich da natürlich auch Sicherheitsfragen. Es gibt Bedenken bezüglich der Privatsphäre – zum Beispiel dass besser verfolgbar ist, wo man sich gerade aufhält. Zwar gibt es auch bereits technische Lösungen dies teilweise zu verhindern, dennoch gilt es, weitere Möglichkeiten zu finden, wie die globale Erreichbarkeit mit Privatsphäre und Datenschutz vereinbar ist. Letztendlich sollte jedoch jedes Gerät global erreichbar sein, wenn es gewünscht ist.


 

 

Ist der Unterschied bei den Formaten nur die Menge an verfügbaren Adressen oder gibt es noch zusätzliche Funktionen bei IPv6?

Der wesentliche Unterschied ist in erster Linie tatsächlich die Größe der Adressen. Funktional gesehen hat sich nicht viel verändert. Es gibt einige Veränderungen und Verbesserungen im Detail, aber prinzipiell sind die grundlegenden Merkmale und Eigenschaften von IPv6  sehr ähnlich zu IPv4. Das ist ein Grund, weshalb sich IPv6 bisher noch nicht durchgesetzt hat.

Das Problem ist, dass IPv6 nicht „rückwärtskompatibel“ ist, das heißt, es ist ein komplett neues Format. Dementsprechend müssen alle Geräte im Internet, die jetzt das alte IPv4-Format verstehen, aufgerüstet werden, um mit dem neuen IPv6-Format zu funktionieren. Viele Betreiber haben es versäumt, rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, weil es keinen wirtschaftlichen Anreiz dazu gab. Es gibt keinen spürbaren Mehrwert durch das neue Protokoll, außer, dass es zunächst keinen Adressmangel mehr gibt. Insofern erklärt das die abwartende Haltung der Provider, die bisher nicht bereit waren, in IPv6 zu investieren. Ein weiterer Punkt ist, dass sich die Betriebskosten fast verdoppeln: Die Provider müssen zeitgleich das Netz mit dem alten Protokoll betreiben und das neue Protokoll zusätzlich anbieten. Das verursacht operationale Mehrkosten, denen kein Mehrwert zum Beispiel in Form von Umsatzsteigerung entgegensteht.

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