Bewusstsein für Verantwortung
Ob Dieselskandal oder Plagiate: Nicht immer stecken dahinter kriminelle Absichten. Auch komplexe institutionelle Verhältnisse, unklare Verantwortungsstrukturen oder schlicht eingeschliffene Verhaltensweisen können zu ethisch problematischem Handeln führen. An der Academy for Responsible Research, Teaching and Innovation, kurz ARRTI, des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) lernen Forschende und Studierende, ethische Fallstricke zu erkennen und Verantwortung zu übernehmen.
„Forschung bestimmt unseren Lebensalltag mit. Das kann in guter und in schlechter Hinsicht geschehen“, sagt Rafaela Hillerbrand. „Deshalb brauchen wir Forschende, die geschult sind, ethische Probleme als solche zu erkennen.“ Ethical Literacy nennt die Professorin für Technikethik und Wissenschaftsphilosophie das Handwerkzeug, das dazu nötig wird. Und dieses will sie gemeinsam mit ihrem Team der ARRTI nachhaltig am KIT verankern. „Wir wollen alle Handelnden in Lehre, Forschung und Innovation dazu befähigen, stärker Verantwortung zu übernehmen.“
Warum sich ethisch korrektes Verhalten in der Wissenschaft nicht einfach über Regularien oder per Gesetz vorschreiben lässt, erklärt die Physikerin und Philosophin so: „Ethik ist die Reflexion darauf, wie wir uns richtig oder falsch verhalten. Das hängt natürlich auch von unseren Handlungsmöglichkeiten ab. Und davon erschaffen wir uns mit Forschung und Innovation ja immer wieder neue.“ Hillerbrand ist sich sicher: Der Schlüssel zu mehr Verantwortung in Wissenschaft und Technik liegt bei all jenen, die diese Bereiche tagtäglich voranbringen.
Fallbeispiel Dieselskandal: Verantwortung in komplexen Zusammenhängen
Die Kompetenzen dazu will sie praktisch vermitteln. Zum Beispiel, indem sich ARTTI mit speziell dafür entwickelten Ethikmodulen am Masterkurs „Integrierte Produktentwicklung“ beteiligt. Da arbeiten Studierende mit einem Industriepartner zusammen. Für ethische Fragen wird jede Gruppe von einer Philosophin oder einem Philosophen begleitet. Ein gern diskutiertes Fallbeispiel ist der Dieselskandal.
Zur Erinnerung: Im Jahr 2015 wurde bekannt, dass Automobilhersteller ihre Abgasreinigung so manipulierten, dass diese nur bei der Abgasuntersuchung angeschaltet war. „Am Dieselskandal lässt sich wunderbar deutlich machen, wie herausfordernd es in komplexen institutionellen Zusammenhängen ist, in denen Ingenieurinnen und Ingenieure eingebunden sind, Verantwortung angemessen zu übernehmen“, sagt die Technikethikerin. „Es ist ja nicht so, dass Ingenieurinnen und Ingenieure per se verantwortungslos handeln.“
Es läge eher an undurchsichtigen Verantwortungsstrukturen. An Abhängigkeiten von Vorgesetzten. Am eigenen, stark begrenzten Einfluss auf den Gesamtprozess. Und nicht immer wären die gesetzlichen Regeln sinnvoll. „Viele wussten, dass da Schindluder getrieben wird. Aber viele hielten auch die Regelgebung für unsinnig. Die Testbedingungen waren so unrealistisch, dass der Test für den Ausstoß auf der Straße wenig Aussagekraft hatte“, nimmt Hillerbrand eine mögliche Perspektive am Skandal Beteiligter ein. „Viele dachten deshalb, es sei okay, gegen die Regeln zu verstoßen.“
Regeln hinterfragen statt brechen
Wer an einem der Kurse von ARRTI teilnimmt, wird auf solche Fallstricke aufmerksam gemacht. Teilnehmende lernen, ein ethisches Problem als solches zu erkennen und was es heißt, ethisch zu argumentieren, aber auch, die Sinnhaftigkeit von Regelungen zu hinterfragen. „Wenn ich mich regelkonform verhalte, heißt das nicht, dass es ethisch legitim ist“, erklärt Hillerbrand. „Aber ich habe nicht das Recht, gesetzliche Regeln zu brechen, weil diese ethisch nicht legitim sind. Stattdessen sollte ich mich für deren Änderung starkmachen.“ Zu Wissenschaft und Forschung gehöre auch das Nachdenken über ethische Fragen. Das könne man nicht komplett anderen überlassen.
Die Kraft des erhobenen Zeigefingers: Im Gespräch mit Sebastian Burger erörtert Rafaela Hillerbrand, wie Technikethik verantwortungsvolle Forschung, Lehre und Innovation stärken kann.
Jetzt AnhörenAlltägliche Fallstricke
Nun muss es nicht immer ein weltweiter Skandal sein, der Wissenschaft und Innovation zu mehr Verantwortung mahnt. Auf die Fallstricke, die im ganz alltäglichen Wissenschaftsbetrieb auf Forschende lauern, will der Workshop „Ethics in the Lab“ aufmerksam machen, der sich an Nachwuchsforschende richtet. „Wissenschaftliches Fehlverhaltens ist rechtlich reguliert“, erklärt Dr. Alexander Bagattini aus Hillerbrands Team. „Das sagt mir als Wissenschaftler oder als Wissenschaftlerin aber noch relativ wenig über die Gründe, aus denen heraus es richtig oder falsch ist, so etwas zu tun.“
Hier setzt er als Kursleiter an und will eine Orientierungshilfe liefern. „Klar, mit einem Plagiat verletzt man das Eigentum von anderen“, pickt er ein Beispiel wissenschaftlichen Fehlverhaltens heraus. „Aber es geht auch um Gerechtigkeit. Es geht um Vertrauen und um Werte, die vielleicht erst einmal nicht so offen auf der Hand liegen. Das herauszuarbeiten, führt bei den Teilnehmenden zu ganz wichtigen Einsichten.“
Bagattini ist überzeugt, dass Vorsatz und kriminelle Energie bei den wenigsten Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens im Spiel sind. Oft sei es eine Kombination aus Druck – zum Beispiel dem, zu Publizieren – und eingeschliffenen Verhaltensweisen wie unsauberes Zitieren und Paraphrasieren. „Das wird irgendwann selbst gar nicht mehr wahrgenommen“, sagt er. „Deswegen ist es umso wichtiger, sich so gut wie möglich dagegen zu imprägnieren. Und ein bewährtes Mittel dafür ist eben auch, über diese Dinge nachzudenken.“
Starke und schwache Argumente
Dazu soll „Ethics in the Lab“ anregen. Neben den Micro Lectures, die zu Hause vorbereitet werden, beinhaltet der Kurs eine vierstündige Präsenzveranstaltung. Diese startet mit einer Gruppenarbeit, dem Advocatus Diaboli Spiel. Es geht darum, einen historischen Fall wissenschaftlichen Fehlverhaltens aufzurollen: Der Physiker Robert Andrews Millikan hatte in seiner Veröffentlichung, die ihm später auch den Nobelpreis einbrachte, wissentlich Daten vorenthalten. Eine Gruppe sucht nun Argumente, Millikan anzuklagen. Die andere Gruppe hingegen muss Argumente finden, die sein Fehlverhalten entschuldigen. Die eigene Meinung, und das ist wichtig, bleibt dabei außen vor.
„Es geht darum, eine Position mit Argumenten zu verteidigen“, erklärt Bagattini. „Sei es meine eigene oder sei es die, die ich angreifen möchte. Denn auf diese Weise lernt man, zu argumentieren.“ Und das sei für die Ethik fundamental, weil es zwar kein Wahr oder Falsch im naturwissenschaftlichen Sinn gebe, allerdings bessere oder schlechtere Argumente, mit denen man sein Tun begründet. Und es gäbe Kriterien, anhand derer man die Güte von Argumenten beurteilen kann.
„Ich kann niemandem vorschreiben, was für Werteannahmen er macht. Aber ich kann seine Argumente untersuchen“, sagt Bagattini. Dafür sei die Philosophie geradezu prädestiniert. Denn wie die Naturwissenschaft auch, sei sie an rationalen Prinzipien und an der Vernunft orientiert. „Uns geht es um methodisch Stringenz. Wir prüfen, wie stark oder schwach Argumente sind. Und wir lenken den Blick auf Aspekte, an die vielleicht nicht gedacht wurde.“ So entsteht Ethical Literacy: die Fähigkeit, sich seiner Verantwortung bewusst zu sein und das eigene Handeln stets aufs Neue zu hinterfragen und entsprechend anzupassen.
Kai Dürfeld, 15.08.2023
Die Ausgabe 2/2023 des Forschungsmagazins lookKIT dreht sich rund um das Thema Verantwortung in Forschung und Innovation.
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