Ist Grüner Wasserstoff das Erdöl der Zukunft?
Nicht wenige Fachleute sehen mithilfe von Wind- oder Sonnenenergie hergestellten Grünen Wasserstoff als klimaneutrales Erdöl der Zukunft. Auch die Bundesregierung sieht den Energieträger als zentralen Bestandteil für eine erfolgreiche Energiewende. Im Gespräch mit den beiden Experten Professor Roland Dittmeyer und Dr. Frank Graf, die am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zu Wasserstoff forschen, geht es um eine Einschätzung, ob das kleinste Element des Periodensystems die Erwartungen erfüllen kann, die weltweit zur Entwicklung nationaler Wasserstoffstrategien geführt haben, auch in Deutschland.
Roland Dittmeyer ist Leiter des Instituts für Mikroverfahrenstechnik (IMVT) des KIT und Mitglied des Forschungsteams im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Wasserstoffleitprojekt H2Mare. Frank Graf ist Bereichsleiter Gastechnologie der Forschungsstelle des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches e. V. am Engler-Bunte-Institut (EBI) des KIT und koordiniert den Verbund GET H2 TransHyDE im ebenfalls vom BMBF geförderten Wasserstoffleitprojekt TransHyDE.
lookKIT: Grüner Wasserstoff gilt als überaus vielseitig einsetzbar, als universell einsetzbarer Schlüsselrohstoff für die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft im Rahmen der Klimapolitik. Sind diese Hoffnungen gerechtfertigt?
Roland Dittmeyer: Nur unter der Voraussetzung, dass es gelingt, ihn in den benötigten gewaltigen Mengen als Grünen Wasserstoff, das heißt aus erneuerbaren Quellen herzustellen.
Dr. Frank Graf: Der Hydrogen Council, ein internationaler Unternehmenszusammenschluss mit dem Ziel, den Einsatz von Wasserstofftechnologien zu beschleunigen, erwartet in einer aktuellen Analyse einen weltweiten Bedarf von circa 25 000 Terawattstunden aus Wasserstoff pro Jahr. Wir haben im Rahmen eines Projekts ein Szenario entwickelt, bei dem wir allein in Deutschland bis 2045 etwa 700 bis 800 Terawattstunden benötigen.
Kann man diese Menge in Deutschland erzeugen?
Graf: Rund 40 Prozent der benötigten Menge können wir selbst herstellen. Der Rest muss importiert werden. Dafür ist der Aufbau einer Infrastruktur unerlässlich. Dazu gehören insbesondere ein europäisches Pipelinenetz und der Schiffstransport von Flüssigwasserstoff und Derivaten davon, etwa Methan, Methanol oder Ammoniak.
Aber kommt der Ausbau von Produktionskapazitäten nicht auch in den infrage kommenden Exportländern eher schleppend voran?
Graf: Der Vorteil bei den erneuerbaren Energien ist, dass wir nicht auf einzelne Länder oder Regionen angewiesen sind. Im Gegensatz zu Erdöl oder Erdgas gibt es weltweit große Potenziale, eine Diversifizierung der Bezugsquellen fällt deshalb leichter. Theoretisch könnte sich Europa sogar autark mit Grünem Wasserstoff versorgen. Aus Kostengründen wird man das aber sicherlich nicht tun. Aufgrund großer Erzeugungspotenziale, geringer Erzeugungskosten und der moderaten Entfernung ist für Europa insbesondere die MENA-Region von Interesse, also der Mittlere Osten und Nordafrika. Hier sind bereits Infrastrukturen für Erdgas vorhanden, die auch für grüne Gase genutzt werden könnten. Dazu gehören Erdgastransportleitungen und Erdgas-Verflüssigungsanlagen. Allerdings gibt es in der Region erhebliche politische Risiken.
Wo liegen die Herausforderungen für einerseits kleinere, dezentrale Anlagen und andererseits zentrale Großanlagen, die beispielsweise mit großen Windparks gekoppelt sind?
Dittmeyer: Selbst kleinere Anlagen bewegen sich im Megawattbereich. Da man davon sehr viele benötigt, ist die industrielle Serienfertigung von Elektrolyseuren für die Wasserstoffproduktion ein wichtiges Forschungsthema. Große Anlagen wiederum produzieren im Gigawattbereich. Dafür braucht es Standorte, wo regenerative Energie in großen Mengen kostengünstig zur Verfügung steht.
Graf: Für die großskalige Wasserstoffproduktion, beispielsweise in der MENA-Region, müssen die im Megawatt-Maßstab verfügbaren Elektrolysesysteme zu großtechnischen Anlagen im Gigawatt-Bereich gekoppelt werden. Auch die Weiterentwicklung der Produktion von Kohlenstoffmonoxid-Wasserstoff-Gemischen mithilfe der Hochtemperatur-Co-Elektrolyse ist ein wichtiges Thema. Auf diese Weise synthetisierte Kohlenwasserstoffe können zur Herstellung von alternativen Kraftstoffen oder in der Chemieindustrie zum Einsatz kommen. Daneben werden wir aber auch viele Elektrolyseure brauchen, um überschüssigen Strom, etwa aus Produktionsspitzen beim Solarstrom, in kleineren dezentralen Anlagen aufnehmen zu können. Damit kann die Wasserstoffelektrolyse zur Stabilisierung des Stromnetzes beitragen.
Welchen Wirkungsgrad kann man bei der Elektrolyse erreichen?
Dittmeyer: Mit klassischen Verfahren, der alkalischen oder Proton-Exchange-Membran- Elektrolyse, erreichen wir eine Effizienz von etwa 60 bis 70 Prozent. Mit der neueren Hochtemperatur-Dampf-Elektrolyse erreicht man Wirkungsgrade von über 80 Prozent, wenn der Dampf durch Abwärme erzeugt wird. Die Effizienz der Elektrolyse hängt aber auch davon ab, mit welcher Last sie betrieben wird. Mit hoher Last hat sie eine geringere Effizienz als mit niedrigerer Last.
Ist die chemische Zwischenspeicherung von Energie in Form von Wasserstoff eher für lange oder kürzere Zeiträume geeignet?
Graf: Wasserstoff erlaubt eine vergleichbare saisonale Speicherung über mehrere Wochen und Monate in großen Untergrundspeichern wie Erdgas. Für die Stabilisierung der lokalen Stromversorgung ist die Einspeisung ins Gasverteilnetz oder die Speicherung in Kugelgasbehältern denkbar, um den Wasserstoff bei Bedarf wieder verstromen zu können.
Dittmeyer: Im Unterschied zur Batteriespeicherung eignet sich die chemische Speicherung über Wasserstoff vor allem für größere Mengen und längere Zeiträume. Die Batteriespeicherung ist relativ teuer. Dafür sind die Effizienzverluste bei der chemischen Speicherung größer.
Kann man die bestehende Erdgasinfrastruktur für Speicherung und Transport nutzen?
Graf: Man muss unterscheiden, ob es um eine Zumischung zum Erdgas oder um reine Wasserstoffnetze geht. Was das Material der Rohrleitungen betrifft, können 96 Prozent unserer Gasnetze Wasserstoff vertragen. Aber man muss die ganze Peripherie und die Anwendungen beachten. Wie wird beispielsweise abgerechnet? Hierfür gibt es bereits technische Regelwerke, die in den nächsten Jahren ein wichtiges Thema sein werden. Neben der Speicherfunktion spielt der Grüne Wasserstoff auch eine wichtige Rolle bei der Dekarbonisierung der chemischen Industrie.
Dittmeyer: Richtig. Chemische Prozessketten, wie zum Beispiel die Herstellung von Ammoniak oder Ethylen, nutzen bisher Grauen Wasserstoff, der mit Hilfe von fossilen Brennstoffen gewonnen wurde. Tatsächlich können diese Prozesse mit Grünem Wasserstoff weiterbetrieben werden.
Und bei der Dekarbonisierung der Mobilität mithilfe von Wasserstoff?
Dittmeyer: Züge, die mit Wasserstoff und Brennstoffzellen angetrieben werden, gibt es schon. Das ergibt Sinn, wenn eine Elektrifizierung der Strecke zu aufwendig ist. LKW könnte man ebenfalls mit Wasserstoff und Brennstoffzellen betreiben. Bei den PKW hängt es von der Entwicklung der Brennstoffzelle im Vergleich zur Batterie ab.
Was ist mit den aus Wasserstoff gewonnenen E-Fuels, also klimaneutralen Kraftstoffen?
Dittmeyer: Die Politik limitiert den Einsatz von E-Fuels auf bestimmte Anwendungen. Synthetisches Kerosin als Flugkraftstoff zum Beispiel. Als Nebenprodukt entsteht dann aber auch synthetischer Diesel. Der kann beim Schwerlastverkehr oder für Arbeitsmaschinen eingesetzt werden. Man könnte E-Fuels auch in PKW einsetzen. Das Argument dagegen ist, dass wir uns inzwischen auf die effizientere direkt-elektrische Lösung festgelegt haben.
Wird dadurch nicht das Prinzip der Technologieoffenheit verletzt? Die Geschwindigkeit der Dekarbonisierung ist ja auch ein wichtiger Faktor.
Dittmeyer: Ja, aber auch die Tiefe der Dekarbonisierung ist relevant. Die Kunst ist es, beides voranzubringen. Die Politik fürchtet, die gesellschaftliche Akzeptanz der batteriebetriebenen Mobilität zu schwächen, wenn sie die E-Fuels gleichwertig behandelt. Damit würde sich die Erneuerung des Fahrzeugbestands möglicherweise verzögern.
Graf: Aber selbst, wenn wir in zehn Jahren 15 Millionen Elektrofahrzeuge auf der Straße haben, gibt es immer noch 30 Millionen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren. Deshalb werden wir die synthetischen Kraftstoffe möglichst bald in großen Mengen herstellen müssen, nicht nur für den Schwerlast- oder Flugverkehr. Wir werden schlicht nicht warten können, bis alle Fahrzeuge elektrifiziert sind.
Das KIT ist am Wasserstoffleitprojekt des Bundes H2Mare beteiligt. Da geht es um die direkte Kopplung der Wasserstoffproduktion an die großen Windparks vor der Küste. Was sind die Vorteile?
Dittmeyer: Für weit vor der Küste liegende Windparks ist die elektrische Anbindung teuer. Wenn man Wasserstoff offshore erzeugen kann und ihn mit einer Pipeline an Land bringt, sind die Transportkosten niedriger als es eine elektrische Anbindung wäre. Außerdem ist die direkte Koppelung der Elektrolyse mit Windenergieanlagen effizienter, man benötigt weniger Komponenten und vermeidet die aufwändige Einspeisung elektrischer Energie im Gigawattbereich an Land. Dem gegenüber steht der Aufwand, das offshore zu machen: die Kosten der Plattform, die Wartung auf See, die Automatisierung der Abläufe oder auch die Härtung gegen Wettereinflüsse. Das wollen wir im Projekt analysieren.
Stefan Fuchs, 18.01.2023