Schon klassische Röntgenbilder erlauben es, in das Körperinnere von Lebewesen zu schauen. Nun liefern Röntgenstrahlen auch Informationen über die frühe Embryonalentwicklung von Wirbeltieren. Im Fachmagazin Nature stellt ein deutsch-russisch-amerikanisches Forscherteam unter Leitung des KIT die neue Methode vor. Über zwei Stunden hinweg beobachteten sie die frühe embryonale Entwicklung des Afrikanischen Krallenfrosches mit zellularer Auflösung und in 3-D. Dazu nutzen sie statt der Absorption von Röntgenwellen, deren Beugung. (DOI: 10.1038/nature12116)
„Beugung von Röntgenstrahlung an Gewebe stellt eine hochauflösende Bildgebungsmethode für weiche Gewebe dar“, erklärt Ralf Hofmann, einer der Autoren der Studie und Physiker am KIT. „In unserer Studie konnten wir nicht nur einzelne Zellen und Teile derer Struktur auflösen, sondern auch die Wanderbewegung von Zellen und Zellverbänden.“
Die Röntgenbeugung erlaubt es, ähnliche Gewebe aufgrund winziger Variationen des Brechungsindexes zu unterscheiden. Sie kommt aber im Vergleich zur klassischen Absorptionsbildgebung ohne Kontrastmittel und mit geringeren Röntgendosen aus. Dies ist insbesondere bei empfindlichen Geweben wie bei Froschembryos von enormem Vorteil. In der Studie interessierten sich die Forscher insbesondere für die Verschiebungen und Formveränderungen der Zellverbände während der sogenannten Gastrulation.
Während der Gastrulation kommt es zur Ausbildung und Spezialisierung der Gewebestrukturen, sodass aus einer zunächst ballonförmigen Anordnung von wenigen Hundert Zellen ein komplexer Organismus mit differenzierten Geweben wie Nervenbahnen, Muskeln und inneren Organen entstehen kann. Dem renommierten Entwicklungsbiologen Lewis Wolpert wird in dem Zusammenhang der Satz zugeschrieben, dass „nicht die Geburt, die Hochzeit oder der Tod, sondern die Gastrulation der wichtigste Zeitpunkt für dein Leben ist.“
„Mit Hilfe der Röntgenbeugung konnten wir nun dabei zuschauen, welche koordinierten und individuellen Zellbewegungen während der Gastrulation ablaufen“, stellt der Zoologe Jubin Kashef, Coautor und Nachwuchsgruppenleiter am KIT, fest. Erstmals wurde am lebenden Embryo nachvollzogen, wie Zellen gemeinschaftlich agieren und dabei flüssigkeitsgefüllte Hohlräume entstehen und vergehen. „Es ist wie bei einer Völkerwanderung.“ Stimuliert durch die Wanderbewegung einzelner Zellgruppen beteiligen sich weitere Zellen. Sie bilden Zellverbände, die nicht nur gemeinsame Wegstrecken absolvieren, sondern sich während der Wanderung und in Abhängigkeit von ihrer Umgebung verändern. Dabei gruppieren sich Zellen neu, um Gewebearten der zukünftigen Organe, etwa dem Gehirn oder der Haut, zu bilden.
„Es ist faszinierend, diese Prozesse am einzelnen, lebenden Froschembryo – quasi live - ablaufen zu sehen“, so Hofmann und Kashef. „Wir gewinnen dadurch wichtige, grundlegende Erkenntnisse.“ Dies gilt sowohl für morphologische und dynamische Aspekte der Embryonalentwicklung als auch für die Klärung zugrunde liegender molekularbiologischer Mechanismen. Der Afrikanische Krallenfrosch (Xenopus Laevis) ist eines der wichtigsten Modellsysteme für die Entwicklungsbiologie und erlaubt die Untersuchung auch für Menschen und andere Säugetiere relevanter Entwicklungsmechanismen. In weiteren Studien könnten nun die abweichende Ausprägung von Merkmalen mit dem gezielten Ausschalten von Schlüssel-Eiweißen korreliert werden. Die neue Untersuchungsmethode, die aus dem Ineinandergreifen modernster Röntgenmesstechnik, intelligenter Bildanalyse und Biologie entsprungen ist, soll dazu an den Synchrotronanlagen ANKA in Karlsruhe und APS in Chicago fest etabliert und einem breiten wissenschaftlichen Anwenderkreis verschiedener Lebenswissenschaften zur Verfügung gestellt werden.
Für die Studie nutzte die Forschergruppe des KIT unterstützt von Biologen der Northwestern University kohärente Röntgenstrahlung aus der Synchrotronstrahlungsquelle Advanced Photon Source am Argonne National Laboratory in Chicago. Die Methodenentwicklung dafür war zuvor an der Synchrotronstrahlungsquelle ANKA des KIT erfolgt. Bei der konkreten Messung durchläuft ein kohärentes Bündel von Röntgenlicht den noch kugelförmigen, rund ein millimetergroßen Froschembryo, der sich in 18 Sekunden ein halbes Mal um seine Achse drehte. Diese Variation der Durchstrahlungswinkel erlaubt es ein tomografisches dreidimensionales Bild zu erzeugen. Da das Licht die verschiedenen Gewebearten mit verschiedenen Brechungsindizes unterschiedlich schnell durchläuft, kommt es zur Beugung, die in einiger Entfernung nach Austritt aus dem Embryo durch Interferenzeffekte eine charakteristische Intensitätsverteilung entstehen lässt. In den 18 Sekunden der tomografischen Aufnahme wurden rund 1200 Bilder unter verschiedenen Durchstrahlungswinkeln aufgenommen. Jedes Bild besteht wie bei einer digitalen Fotokamera aus einigen Millionen Bildpunkten.
Aus dieser Flut von Bilddaten werden die dreidimensionale Struktur und die zeitliche Entwicklung des Embryos mit Mikrometerauflösung errechnet. Die dafür maßgeschneiderten Algorithmen der dreidimensionalen Bildrekonstruktionen der sogenannten Röntgen-Phasenkontrast-Mikrotomografie und der darauf aufbauenden Bild- und Bewegungsanalyse wurden an ANKA am KIT entwickelt. Wiederholt man den Prozess im Abstand einiger Minuten, so entsteht eine ganze Abfolge von 3-D-Bildern, die den zeitlichen Ablauf der Gastrulation im gesamten Embryo wiedergibt.
Wichtige Ergebnisse der aktuellen Studie sind die Entdeckung neuartiger morphologischer Strukturen, definitive Aussagen über den Ablauf von Flüssigkeitsumverteilungsprozessen sowie die Lokalisierung von Antriebszentren für die Gewebe- und Zellwanderung über sogenannte differentielle Flussfelder.
Referenz:
J. Moosmann, A. Ershov, V. Altapova, T. Baumbach, M. S. Prasad, C. LaBonne, X. Xiao, J. Kashef, and R. Hofmann, „X-ray phase-contrast in vivo mictotomography probes new aspects of Xenopus gastrulation“, Nature (2013), doi:10.1038/nature12116.
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