Dürfen Gendefekte durch einen Eingriff in Samen- oder Eizelle oder sogar in den menschlichen Embryo behoben werden? Durch Genscheren wie CRISPR/Cas könnten solche Interventionen in die Keimbahn bald medizinische Realität werden. Im Beteiligungsprojekt „Bürgerdelphi Keimbahntherapie“ des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) haben sich Bürgerinnen und Bürger intensiv mit Risiken und Nutzen von Keimbahneingriffen befasst. Im Abschlussbericht des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekts fordern sie nun eine Lockerung des Forschungsverbots sowie international verbindliche Regeln.
Als Mitochondrien-Transfer bezeichnet man fachsprachlich einen Eingriff in die menschliche Keimbahn, der es möglich macht, dass Kinder drei genetische Eltern haben. Dieses therapeutische Verfahren hat das britische Parlament im Februar 2015 zugelassen – und damit weltweit Aufsehen erregt. Zwar wollen alle Eltern ein gesundes Kind, doch Keimbahntherapien sind umstritten weil von den Folgen nicht nur die Individuen, sondern auch alle nachfolgenden Generationen betroffen sind. In Deutschland existiert bislang ein umfassendes Verbot, das auch die Grundlagenforschung betrifft. Doch aufgrund der international unterschiedlichen Gesetzeslagen sowie des Aufkommens von Genscheren, die eine gezielte Genprogrammierung stark vereinfachen, besteht dringend Klärungs- und Handlungsbedarf. Die dafür notwendige breite gesellschaftliche Debatte hat in Deutschland bislang noch nicht stattgefunden.
Vor diesem Hintergrund hat das KIT das Projekt „Bürgerdelphi Keimbahntherapie“ (BueDeKa) durchgeführt. Von April bis Juli 2018 haben sich 26 Teilnehmende den schwierigen Fragen gestellt, die sich aus einem permanenten Eingriff in das menschliche Erbgut ergeben. „Wir wollten den Diskurs mit Bürgerinnen und Bürgern über diese neue biologische Technologie anstoßen“, sagt der Kommunikationsberater Dr. Ralf Grötker, der das Bürgerdelphi in Zusammenarbeit mit der Abteilung Wissenschaftskommunikation des Instituts für Germanistik am KIT entwickelt und durchgeführt hat. Bei diesem Beteiligungsverfahren handelt es sich um ein neues Format, das Aspekte der Delphi-Befragungsmethode – einem mehrstufigen begleiteten Befragungsverfahren mit systematischer Rückkopplung – und des Bürgergutachtenverfahrens vereint. „Das Verfahren ist darauf ausgerichtet, ein komplexes Thema mit einem Kreis von Laien zu bearbeiten, sie zu einem informierten Urteil zu befähigen und schließlich zu Empfehlungen für die Politik zu gelangen“, so Grötker.
Bei der Berlin Science Week wurde nun der Abschlussbericht des Projektes vorgestellt. In Bezug auf eine künftige rechtliche Regulierung der Keimbahntherapie sprechen sich die Teilnehmenden mehrheitlich dafür aus, das bestehende Verbot der Grundlagenforschung zur Keimbahntherapie in Deutschland zu lockern, damit Deutschland eine aktive Rolle bei der internationalen Regulierung spielen kann. Gleichzeitig unterstützen die Teilnehmenden die an die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag gerichtete Forderung, sich für international verbindliche Regeln zu möglichen Keimbahninterventionen beim Menschen einzusetzen. Die Chancen, welche die Keimbahntherapie mittel- bis langfristig eröffnet, wurden als mäßig bis deutlich relevant beurteilt. Unbekannte und biologische Risiken von Keimbahninterventionen wurden als relevant vor allem für den Einsatz in der Therapie erachtet, jedoch nicht so sehr in Bezug auf die Entscheidung über die Zulassung von Grundlagenforschung. Ein Missbrauch der Keimbahntherapie (in Form des Überschreitens von gesetzlich vereinbarten Regeln oder in Form politischer Instrumentalisierung) wurde als sehr wahrscheinlich erachtet. Die Teilnehmenden waren der Meinung, dass die Ausweitung von sozialer Ungleichheit auf eine genetische – etwa durch das Auslöschen von Defekten im Erbgut via bezahlter Keimbahnintervention – eine wahrscheinliche Entwicklung darstellt. Fast einhellig positionierten sich die Teilnehmenden dabei ablehnend gegenüber Möglichkeiten eines solchen genetischen „Enhancements“.
„Zukünftig wird die Wissenschaft mehr und mehr schwierige Fragen dieser Art aufwerfen“, sagt Professor Annette Leßmöllman vom Institut für Germanistik, die das „Bürgerdelphi Keimbahntherapie“ initiiert hat. „Wichtig ist, dass die Bürgerinnen und Bürger, die Möglichkeit haben mitzudiskutieren und diese auch nutzen. Denn sie sind es, die mit ihrer Wahlentscheidung oder mit Bürgerbegehren Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen.“ Die Erfahrung mit dem Bürgerdelphi habe gezeigt, dass Laien durchaus in der Lage sind, sich kompetent zu positionieren, wenn sie angemessen informiert werden. Ein entscheidendes Ergebnis des Projektes sei in diesem Zusammenhang auch ein Appell an die wissenschaftliche Gemeinschaft, besser über den Stand der Forschung aufzuklären und allgemeinverständliche Informationen bereitzustellen.
Zum vollständigen Bericht des Bürgerdelphis:
www.explorat.de/wp-content/uploads/2018/buedeka.pdf
Als „Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft“ schafft und vermittelt das KIT Wissen für Gesellschaft und Umwelt. Ziel ist es, zu den globalen Herausforderungen maßgebliche Beiträge in den Feldern Energie, Mobilität und Information zu leisten. Dazu arbeiten rund 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf einer breiten disziplinären Basis in Natur-, Ingenieur-, Wirtschafts- sowie Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Seine 22 800 Studierenden bereitet das KIT durch ein forschungsorientiertes universitäres Studium auf verantwortungsvolle Aufgaben in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft vor. Die Innovationstätigkeit am KIT schlägt die Brücke zwischen Erkenntnis und Anwendung zum gesellschaftlichen Nutzen, wirtschaftlichen Wohlstand und Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das KIT ist eine der deutschen Exzellenzuniversitäten.