Presseinformation 087/2019

Ein Turbochip für die Medikamentenentwicklung

Wissenschaftler des KIT entwickeln Verfahren, das chemische Synthese und biologisches Screening von Wirkstoffen vereinfacht und beschleunigt, in dem es alle Schritte auf einem Chip vereint.
Array aus Mikrotröpfchen mit verschiedenen Reagenzien auf der Synthese-Plattform des chemBIOS Chips. (Foto: Maximilian Benz, KIT)
Array aus Mikrotröpfchen mit verschiedenen Reagenzien auf der Synthese-Plattform des chemBIOS Chips. (Foto: Maximilian Benz, KIT)

Trotz steigenden Bedarfs sinkt die Zahl neu entwickelter Medikamente in den letzten Jahrzehnten stetig. Die Suche nach neuen Wirkstoffen, deren Herstellung, Charakterisierung und das Testen auf biologische Wirksamkeit ist sehr aufwendig und teuer. Unter anderem auch deswegen, weil alle drei Schritte bis dato noch getrennt voneinander durchgeführt werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) ist es nun gelungen, sie auf einem Chip zu vereinen und damit den Weg zu erfolgversprechenden Wirkstoffen erheblich zu vereinfachen und zu beschleunigen. Dank Miniaturisierung lassen sich außerdem die Kosten beträchtlich senken. Die Ergebnisse publizierte das Team jetzt in Nature Communications (DOI 10.1038/s41467-019-10685-0).

 

Die Medikamentenentwicklung basiert darauf, große Wirkstoffbibliotheken mit hohem Durchsatz zu screenen. Da es aber bei der chemischen Synthese in Flüssigphase bisher keine miniaturisierten und parallelisierten Methoden im Hochdurchsatz gibt und zugleich die Verfahren zur Synthese bioaktiver Verbindungen und das Screening auf biologische Wirksamkeit meist nicht kompatibel sind, werden diese Schritte bislang strikt getrennt durchgeführt. Das macht jedoch den Prozess teuer und ineffizient. „Wir haben deswegen eine Plattform entwickelt, mit der wir die Synthese ganzer Wirkstoffbibliotheken on-chip mit biologischen Hochdurchsatz-Screenings kombinieren können“, so Maximilian Benz vom Institut für Toxikologie und Genetik (ITG) des KIT. Diese sogenannte chemBIOS-Plattform ist sowohl mit organischen Lösungsmitteln für die Synthese als auch mit wässrigen Lösungen für biologische Screenings kompatibel. „Wir verwenden die chemBIOS-Plattform, um 75 parallele Drei-Komponenten-Reaktionen durchzuführen, um eine Bibliothek von Lipiden, also Fetten,  zu synthetisieren, gefolgt von ihrer Charakterisierung durch ein massenspektrometrisches Verfahren, der Bildung von Lipoplexen auf der Objektträger-basierten Plattform und der Zell-biologischen Auswertung“,  so Benz. Lipoplexe sind Nukleinsäure-Lipid-Komplexe, die von eukaryontischen Zellen, also unter anderem menschlichen und tierischen Zellen, aufgenommen werden können.“ „Der gesamte Prozess, von der Bibliothekssynthese bis zum Zellscreening, dauert nur drei Tage und verbraucht etwa einen Milliliter Gesamtlösungen, was das Potenzial der chemBIOS-Technologie zur Effizienzsteigerung und Beschleunigung von Screenings und Medikamentenentwicklung verdeutlicht“, so Benz. Üblicherweise werden für solche Verfahren mehrere Liter Reagenzien, Lösungsmittel und Zellsuspensionen verwendet.

 

Die chemBIOS Technologie wurde kürzlich auch von einer Jury aus Vertreterinnen und Vertretern der Forschung und Industrie für einen der ersten drei Plätze des NEULAND Innovationspreises 2019 des KIT nominiert.

 

Hören Sie hier die Experten im Radiointerview:

 

Medikamentenentwicklung: großer Aufwand und kleine Trefferquote

Aufgrund des immensen Zeitaufwands und der räumlichen und methodischen Trennung der Synthese der Wirkstoffe, dem Screening-Prozess und den klinischen Studien beträgt die Entwicklung eines neuen Medikaments häufig mehr als 20 Jahre und kostet zwischen zwei und vier Milliarden Dollar.

 

Die frühe Phase der Medikamentenentwicklung basiert klassischerweise auf drei Bereichen der Wissenschaft: Chemiker synthetisieren zunächst eine große Bibliothek verschiedener Moleküle. Dabei müssen alle Verbindungen einzeln hergestellt, isoliert und charakterisiert werden. Anschließend untersuchen Biologen die Molekül-Bibliothek auf biologische Aktivität. Besonders aktive Verbindungen, sogenannte „hits“ gehen zurück in die Chemie. Basierend auf dieser Vorauswahl synthetisieren Chemiker weitere Variationen dieser Verbindungen. Diese sekundären Molekül-Bibliotheken enthalten dann optimierte Verbindungen. Nach einigen Durchläufen dieses Kreislaufes gehen einige wenige vielversprechende Wirkstoffkandidaten in den medizinischen Bereich der Wirkstoffentwicklung ein, in dem diese Verbindungen dann in klinischen Studien getestet werden. Von mehreren zehntausenden Verbindungen der ersten Screenings erreicht häufig nur eine einzige oder auch gar keine die letzte Stufe der Wirkstoffentwicklung: die Zulassung als Wirkstoff für ein neues Medikament. Dieses Verfahren ist zeitaufwendig und benötigt sehr viele Ausgangsmaterialien und Lösungsmittel. Dies alles verteuert und verlangsamt die Entwicklung und beschränkt sie auch auf eine machbare Zahl von Wirkstoffen.

 

Originalpublikation (Open Access):

Maximilian Benz, Mijanur R. Molla, Alexander Böser, Alisa Rosenfeld, Pavel A. Levkin: Marrying chemistry with biology by combiningon-chip solution-based combinatorial synthesis and cellular screening, Nature Communications 2019, DOI: 10.1038/s41467-019-10685-0

https://www.nature.com/articles/s41467-019-10685-0

 

Details zum KIT-Zentrum Materialforschung (in englischer Sprache): www.materials.kit.edu/index.php

 

Als „Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft“ schafft und vermittelt das KIT Wissen für Gesellschaft und Umwelt. Ziel ist es, zu den globalen Herausforderungen maßgebliche Beiträge in den Feldern Energie, Mobilität und Information zu leisten. Dazu arbeiten rund 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf einer breiten disziplinären Basis in Natur-, Ingenieur-, Wirtschafts- sowie Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Seine 22 800 Studierenden bereitet das KIT durch ein forschungsorientiertes universitäres Studium auf verantwortungsvolle Aufgaben in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft vor. Die Innovationstätigkeit am KIT schlägt die Brücke zwischen Erkenntnis und Anwendung zum gesellschaftlichen Nutzen, wirtschaftlichen Wohlstand und Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das KIT ist eine der deutschen Exzellenzuniversitäten.

rl, 02.07.2019
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