Neutrinos spielen durch ihre kleine, aber von Null verschiedene Ruhemasse eine Schlüsselrolle in Kosmologie und Teilchenphysik. Der erlaubte Bereich für ihre Masse ist nun durch die ersten Resultate des Karlsruher Tritium Neutrino Experiments KATRIN am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) deutlich eingegrenzt worden. Schon nach einer ersten mehrwöchigen Neutrino-Messphase vom Frühjahr 2019 kann KATRIN die Masse des Neutrinos auf kleiner als 1 eV begrenzen, was um einen Faktor 2 genauer ist als alle bisher durchgeführten teils mehrjährigen Laborexperimente.
Neben den Photonen, den masselosen elementaren Quanten des Lichts, sind Neutrinos die häufigsten Teilchen im Universum. Durch den Nachweis des Phänomens der Neutrino-Oszillation vor rund 20 Jahren konnte gezeigt werden, dass Neutrinos – entgegen früheren Erwartungen – eine sehr kleine, von Null verschiedene Masse besitzen. Damit spielen die „Leichtgewichte im Universum“ eine wichtige Schlüsselrolle bei der Bildung von großräumigen Strukturen im Kosmos wie auch in der Welt der Elementarteilchen auf den allerkleinsten Skalen, wo ihre extrem kleine Masse auf neue Physik jenseits bekannter Modelle hindeutet. Die weltweit genaueste Waage, das internationale KATRIN Experiment am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), soll nun in den nächsten Jahren die Masse der faszinierenden Neutrinos mit bisher unerreichter Genauigkeit bestimmen.
Die KATRIN Kollaboration, an der 20 Institutionen aus 7 Ländern beteiligt sind, konnte in den letzten Jahren zahlreiche technologische Herausforderungen bei der Inbetriebnahme des 70 Meter langen Experimentaufbaus (s. Abb. 1) erfolgreich meistern. Zur Jahresmitte 2018 erreichte KATRIN mit der feierlichen Inbetriebnahme einen wichtigen Meilenstein. Im Frühjahr dieses Jahres war es dann endlich soweit: das 150-köpfige Team (s. Abb. 2) konnte Neutrinos das erste Mal auf die supergenaue Waagschale von KATRIN legen. Dazu wurde über mehrere Wochen hochreines Tritiumgas in der Quelle – dem vordersten Teil der KATRIN-Anlage zirkuliert und die ersten hochgenauen Energiespektren von Elektronen aus dem Tritiumzerfall wurden mit dem zeppelinförmigen Spektrometer aufgenommen, welches die Dimensionen eines Einfamilienhauses hat und dessen Bilder von der Anlieferung im Jahr 2006 um die Welt gingen. Das internationale Analyseteam machte sich schließlich an die umfangreiche Arbeit, um aus den aufgenommenen Daten das erste Resultat für die Neutrinomasse abzuleiten.
Das aktuelle Ergebnis von KATRIN baut auf jahrelangen Vorarbeiten auf, die einen Rahmen für die Datenverarbeitung geschaffen, wichtige Störsignale und Unsicherheitsquellen identifiziert und eingeschränkt sowie ein umfassendes Modell des Instruments erstellt haben. Durch Simulationen und Testmessungen gewannen die Analysten ein tiefes Verständnis für das Experiment und sein detailliertes Verhalten. Im Frühjahr 2019 waren sowohl Hardware- als auch Analysegruppen für die Neutrino-Massendatenerfassung bereit. Thierry Lasserre (CEA, Frankreich und MPI für Physik, München), Analysekoordinator für diese erste Messkampagne: "Unsere drei internationalen Analyseteams arbeiteten bewusst getrennt voneinander, um wirklich unabhängige Ergebnisse zu gewährleisten. Dabei wurde besonders darauf geachtet, dass kein Teammitglied vor Abschluss des letzten Analyseschrittes das Neutrino-Massenergebnis vorzeitig ableiten konnte".
Wie in heutigen Präzisionsexperimenten üblich, wurden wichtige Zusatzinformationen, die zur Vervollständigung der Analyse erforderlich sind, verschleiert, ein Prozess, der von Fachleuten als "Blinding" bezeichnet wird. Um ihre letzten Schritte abzustimmen, trafen sich die Analysten Mitte Juli zu einem einwöchigen Workshop am KIT. Am späten Abend des 18. Juli waren die letzten Details abgestimmt und die nötigen Zusatzinformationen konnten freigegeben werden („Unblinding“). Infolgedessen suchten die drei Analyseprogramme, die gleichzeitig über Nacht durchgeführt wurden, nach der eindeutigen Signatur eines massiven Neutrinos. Am nächsten Morgen gaben alle drei Gruppen identische Ergebnisse bekannt, die die absolute Massenskala der Neutrinos auf einen Wert von weniger als 1 Elektronenvolt (eV) mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent begrenzen. Damit muss die Masse des Neutrinos mindestens 500 000 mal kleiner sein als die des Elektrons.Die beiden langjährigen KATRIN Co-Sprecher, die Professoren Guido Drexlin vom KIT und Christian Weinheimer von der Universität Münster, kommentieren dieses erste Ergebnis mit großer Freude: „Dass KATRIN nach einer Messkampagne von nur wenigen Wochen nun bereits die weltbeste Sensitivität für die Neutrinomasse besitzt und die mehrjährigen Messungen der Vorgängerexperimente um einen Faktor 2 verbessert, zeigt das außerordentlich hohe Potential unseres Projekts.“ Der KIT Vize-Präsident für Forschung, Professor Oliver Kraft, beglückwünscht die Kollaboration „zu dieser fantastischen Leistung, die auf den zahlreichen technologischen Errungenschaften von Weltmaßstab der letzten Jahre aufbaut. Diese wären ohne die enge Zusammenarbeit aller beteiligten Partner mit ihrer einzigartigen Expertise nicht möglich gewesen.“
Als Leiterin der KATRIN Analyseaktivitäten am KIT hat Dr. Kathrin Valerius einen wesentlichen Anteil am nun erzielten Erfolg. Ihre seit Mitte 2014 bestehende Helmholtz-Nachwuchsgruppe am KIT bildet den Kern eines der drei Analyseteams und hat in den Vorjahren besonders wichtige Arbeiten bei der Modellierung der Tritiumquelle und dem Studium der mit ihr verbundenen Systematik geleistet. Die seit langem von Neutrinos begeisterte Gruppenleiterin sagt zum ersten Resultat der KATRIN-Messung: „Wir sind sehr stolz, mit diesem hochmotivierten und hochtalentierten Team die ersten Neutrino-Daten analysieren zu können“.
Die jetzt auf Fachtagungen in Toyama, Japan und am Karlsruher Institut für Technologie vorgestellten Analysen, die gleichzeitig zur Veröffentlichung in einem renommierten Fachjournal eingereicht wurden, nutzen ein seit langem bekanntes Prinzip zur direkten, kinematischen Bestimmung der Neutrinomasse: beim Beta-Zerfall von Tritium teilen sich das dabei entstehende Elektron und sein neutraler, hier nicht nachgewiesener Partner, das (Elektron-) Neutrino, die freiwerdende Energie von rund 18600 eV. In sehr seltenen Zerfällen erhält das Elektron praktisch die gesamte Energie, während für das Neutrino nur ein winziger Bruchteil davon übrig bleibt, mindestens aber – gemäß Einstein – der Betrag E = mc² seiner Ruhemasse. Dies führt zu einer sehr kleinen Modifikation des Elektronenspektrums durch die Neutrinomasse, nach der das KATRIN-Team nun in dem nur wenige Dutzend Elektronenvolt schmalen Energieintervall am Endpunkt des Spektrums gesucht hat (s. Abb. 3). Insgesamt wurden in diesem Intervall in der mehrwöchigen Messphase rund 2 Millionen Elektronen nachgewiesen.
Dies ist nur ein winziger Bruchteil der insgesamt erzeugten Rate an Elektronen aus Tritiumzerfällen von ca. 25 Milliarden pro Sekunde. Um diese hohe Rate aufrecht zu erhalten, muss die gasförmige Tritiumquelle von KATRIN Teil eines geschlossenen Tritiumkreislaufs sein, für dessen Betrieb die gesamte Infrastruktur des Tritiumlabors Karlsruhe erforderlich ist. Das sich an die Quelle anschließende riesige elektrostatische Spektrometer mit seiner Länge von 24 Metern und seinem Durchmesser von 10 Metern agiert dabei als Präzisionsfilter, welches nur die höchstenergetischen Elektronen bei 18600 eV durchlässt. Durch Variation der ultra-genauen (im Millionstel-Bereich) Retardierungs-Spannung, die den Sensor genau definiert vor zu langsamen Elektronen abschirmt, über einen Bereich von wenigen Dutzend Volt lässt sich so eine bisher unerreichte Präzision in der Spektroskopie im Tritiumzerfall erreichen.
Mit der weltbesten Obergrenze für die Masse des Neutrinos hat KATRIN den ersten Schritt bei der Erforschung der Eigenschaften von Neutrinos hinter sich gebracht, viele weitere werden in den kommenden Jahren folgen. Die Co-Sprecher des Experiments freuen sich auf eine weitere deutliche Verbesserung der Sensitivität bei der Messung der Neutrinomasse und bei der Suche nach neuen physikalischen Phänomenen jenseits bisheriger Modelle. Im Namen der Kollaboration danken sie den nationalen und internationalen Zuwendungsgebern für ihre langjährige Unterstützung bei der Realisierung und dem Betrieb des Experiments: „KATRIN ist nicht nur ein weithin sichtbarer Leuchtturm für die Grundlagenforschung und einzigartiges High-Tech Instrument, sondern auch ein ausgezeichnetes Beispiel für internationale Kooperation und erstklassige Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses.“
Die KATRIN Kollaboration, an der 20 Institutionen aus 7 Ländern beteiligt sind, hat folgende deutsche Mitglieds-Institutionen:
- Humboldt Universität zu Berlin
- Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn
- Hochschule Fulda
- Max-Planck-Institut für Kernphysik, Heidelberg
- Karlsruher Institut für Technologie
- Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
- Max-Planck-Institut für Physik, München
- Technische Universität München
- Westfälische Wilhelms-Universität Münster
- Bergische Universität Wuppertal
Als „Die Forschungsuniversität in der Helmholtz-Gemeinschaft“ schafft und vermittelt das KIT Wissen für Gesellschaft und Umwelt. Ziel ist es, zu den globalen Herausforderungen maßgebliche Beiträge in den Feldern Energie, Mobilität und Information zu leisten. Dazu arbeiten rund 10 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf einer breiten disziplinären Basis in Natur-, Ingenieur-, Wirtschafts- sowie Geistes- und Sozialwissenschaften zusammen. Seine 22 800 Studierenden bereitet das KIT durch ein forschungsorientiertes universitäres Studium auf verantwortungsvolle Aufgaben in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft vor. Die Innovationstätigkeit am KIT schlägt die Brücke zwischen Erkenntnis und Anwendung zum gesellschaftlichen Nutzen, wirtschaftlichen Wohlstand und Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das KIT ist eine der deutschen Exzellenzuniversitäten.