Nachhaltige Materialien, umweltfreundlich und unter guten Arbeitsbedingungen gefertigt – für die meisten klingt das überzeugend. Doch wie wägen Konsumenten das Einhalten oder Nichteinhalten solcher ethischen Standards tatsächlich ab? Nicht so stark, wie sie selbst denken: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) haben an einem Beispiel aus der Textilindustrie gezeigt, dass Kunden einen einzelnen ethischen Aspekt unbewusst als Ausrede nutzen, um sich bei anderen Aspekten desselben Produktes und gegenüber anderen Menschen weniger moralisch zu verhalten. Wie diese „Ablasseffekte“ wirken und was sie für Wirtschaft und Politik bedeuten können, berichtet das Team in der Fachzeitschrift PLOS ONE. (DOI: 10.1371/journal.pone.0227036)
Immer mehr Konsumenten interessieren sich für Produkte, die ihren ethischen sowie moralischen Vorstellungen entsprechen und weder Mensch noch Umwelt schaden. In diesem Sinne sehen sich Unternehmen oft für „Greenwashing“ in der Kritik, wie Nora Szech, Professorin für Politische Ökonomie am Institut für Volkswirtschaftslehre (ECON) des KIT, erklärt: „Vielen Unternehmen wird zu Recht vorgeworfen, dass sie nur einzelne ethische Aspekte verbessern anstatt umfassend aktiv zu werden.“ In einer gemeinsamen Studie mit ihrem Doktoranden Jannis Engel konnte die Wirtschaftswissenschaftlerin nun zeigen, dass sich viele Konsumenten jedoch genauso verhalten: „Wer an einer Stelle ein bisschen bewusster einkauft, sieht dies oft als Freibrief, um andere Werte zu ignorieren – ein bisschen gut scheint gut genug zu sein. Ein konkretes Beispiel, das vielen dazu in den Sinn kommen mag, ist der Konsument aus dem Bio-Supermarkt, der anschließend ins SUV springt und nach Hause braust. Das passiert oft vermutlich ganz ohne schlechtes Gewissen.“
Bio-Baumwolle sticht Arbeitsbedingungen
Gezeigt hat die Ökonomin dies in einem dreiteiligen Experiment mit 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmern: Im ersten Schritt bestimmt ein Computer zufällig, ob Teilnehmende im weiteren Verlauf der Studie über Handtücher aus konventioneller oder aus Bio-Baumwolle entscheiden. Im zweiten Schritt konnten die Probanden mit Blick auf die Herstellung wählen: Kein Geld gab es bei einer Entscheidung für unter zertifizierten, ethischen Arbeitsbedingungen produzierte Ware; dagegen gab es einen zusätzlichen monetären Gewinn, wenn die Bedingungen für die Näherinnen und Näher konventionell waren. „Die Teilnehmenden konnten unter diversen Geldbeträgen auswählen und mussten abwägen, ob sie lieber Geld und ein konventionell hergestelltes Handtuch am Ende des Experiments bekommen wollen, oder auf das zusätzliche Geld verzichten, aber dafür ein Handtuch erhalten, das ethische Mindeststandards für Näherinnen und Näher erfüllt“, sagt Szech. Das Ergebnis: Teilnehmende verzichten deutlich weniger auf Geld für sichere Arbeitsbedingungen, wenn ihr Handtuch aus Bio-Baumwolle ist. „Es hat sich gezeigt, dass Probanden, die über Handtücher aus Bio-Baumwolle entschieden, deutlich weniger bereit waren, für sichere Arbeitsstandards zu bezahlen“, so Szech. „Die Entscheidung für das bessere Material diente ihnen hier also als ‚moralische Lizenz‘ dafür, den zweiten ethischen Aspekt außer Acht zu lassen. Eine einzelne, geringe Verbesserung im Produkt reicht also aus, um sich ein hohes moralisches Selbstverständnis aufzubauen und sich selbst als ethisch handelnde Person zu sehen.“
„Ablasswirkung“ hält auch nach dem Kauf noch an
Dieses Verhalten sei dabei nicht auf die konkrete Einkaufssituation oder den aktuellen Zeitpunkt begrenzt. Vielmehr konnte Szech im dritten Schritt des Experiments zeigen, dass Teilnehmende ihre Entscheidung für die Bio-Baumwolle sogar noch eine halbe Stunde später als Ausrede nutzten, um sich eigennütziger zu verhalten. So hatten die Probanden die Möglichkeit, einen Teil ihrer Teilnahmeprämie an Flüchtlinge aus einem örtlichen Flüchtlingslager zu spenden. „Wir stellten fest, dass Probanden mit Handtuch aus Bio-Baumwolle nun seltener spendeten als jene, die ein Handtuch aus konventioneller Baumwolle bekamen“, sagt Szech. „Hier diente also das aus ethischer Sicht bessere Material wieder als Rechtfertigung – diesmal, um weniger an Bedürftige spenden zu ‚müssen‘.“
Allerdings seien sich die Handelnden dieser Verhaltensweise vermutlich nicht bewusst: Zusätzlich sollte eine Gruppe völlig unbeteiligter Personen einschätzen, wie sich die Handtuchkäufer entscheiden. „Es zeigte sich, dass diese Kontrollgruppe die Auswirkung von moralischen Ausreden und Ablasseffekten vollkommen übersah“, so Szech. Potenziell würden Außenstehende einem anderen moralischen Kompass folgen und die Schritte des Experiments als unterschiedliche, nicht zusammenhängende Situationen betrachten. „Daher erwarten sie nicht, dass die Probanden Bio-Baumwolle als Ausrede für weniger moralisches Verhalten an einer ganz anderen Stelle nutzen.“
Die Ergebnisse, so Szech, könnten soziale und politische Debatten anstoßen: Da Konsumenten unbewusst auf Ablasseffekte reagierten, könnten Unternehmen die Auswirkungen der moralischen Selbstlizenzierung nutzen, um Kunden Ausreden zu liefern und die Kaufentscheidung zu beeinflussen. Auch könnten sie so eigene ethische Verfehlungen überdecken. „Politik und Gesellschaft sollten diese Mechanismen kennen, um entsprechend reagieren zu können“, fasst Szech zusammen.
Originalpublikation:
Jannis Engel and Nora Szech: Little Good is Good Enough: Ethical Consumption, Cheap Excuses, and Moral Self-Licensing. The Public Library of Science ONE, 2020. DOI: 10.1371/journal.pone.0227036
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0227036
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