Die Motorik-Modul-Längsschnittstudie (MoMo) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe (PHKA) zeigt, dass sich die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im ersten Lockdown verschlechtert hat. Bei Kindern zwischen vier und zehn Jahren und, unabhängig vom Alter, bei Mädchen förderte die mentale Gesundheit das Aktivitätsverhalten im coronabedingten Lockdown im Frühjahr 2020. Zu diesem Ergebnis kommen die Forschenden in ihrer aktuellen Studie, die in der Fachzeitschrift Children erschienen ist (DOI: 10.3390/children8020098).
„Es gibt viele Diskussionen darüber, wie sich die Lockdown-Maßnahmen auf Kinder und Jugendliche auswirken“, sagt Dr. Kathrin Wunsch vom Institut für Sport und Sportwissenschaften des KIT. Bereits im Dezember hatte das Team des KIT und der PHKA in einer Studie gezeigt, dass sich Kinder und Jugendliche im Lockdown mehr bewegten, aber auch mehr Zeit vor dem Bildschirm verbrachten (www.kit.edu/kit/pi_2020_115_kaum-sport-aber-mehr-bewegung-im-lockdown.php). „Ergänzend dazu haben wir nun untersucht, inwieweit die mentale Gesundheit dabei eine Rolle spielt“, so Wunsch. Die Sportwissenschaftlerin ist Erstautorin der aktuellen wissenschaftlichen Publikation, die im Forschungsprojekt Motorik-Modul-Studie (MoMo) entstand.
Um die verhaltensübergreifenden Zusammenhänge zwischen mentaler Gesundheit, körperlicher Aktivität und verlängerter Bildschirmzeit darzustellen, wertete das Team die entsprechenden Daten der vorangegangenen Studie aus, die im August 2018 sowie im Frühjahr 2020 erhoben worden waren. Insgesamt nahmen 1 711 Kinder und Jugendliche an der Längsschnittstudie teil. Für die Untersuchung beantworteten sie Fragen zu ihrer körperlichen Aktivität und zu ihrem psychischen Wohlbefinden: Im MoMo-Aktivitätsfragebogen gaben sie an, an wie vielen Tagen sie sich während einer gewöhnlichen Woche und einer Woche im Lockdown für mindestens 60 Minuten – entsprechend der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation WHO – bewegt hatten. Zur Messung des Wohlbefindens setzte das Forscherteam den Fragebogen des von der EU geförderten Projekts KIDSCREEN ein, der mit den fünf Skalen physiologisches Wohlbefinden, psychisches Wohlbefinden, Autonomie/Eltern, Freunde/sozialer Support sowie schulisches Umfeld arbeitet. Die Forschenden nutzten zur Analyse sogenannte „Cross-Lag-Modelle“, die verdeutlichen, wie sehr sich wechselseitige Effekte zwischen zwei oder mehreren Messzeitpunkten verändern können. Dabei betrachteten sie die Daten getrennt nach Alter und Geschlecht.
Mentale Gesundheit nimmt insgesamt deutlich ab
„Wir arbeiten mit einem Punktesystem, das das mentale Wohlbefinden ausdrückt. Der durchschnittliche Wert bei Kindern und Jugendlichen liegt bei 50 Punkten. Schon vor der Pandemie hatte Jungen und Mädchen im Vergleich zum europäischen Durchschnitt mit 44 und 45 Punkten hier eher schlechte Werte“, sagt Wunsch. Das Team konnte feststellen, dass diese sich im Lockdown weiter verschlechterten. „Aktuell liegen die Werte zur mentalen Gesundheit bei 40 Punkten bei Jungen und bei 41 Punkten bei Mädchen. Wir sehen deutlich, dass die Pandemie einen negativen Einfluss auf die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hat. Der weitere Rückgang bedeutet eine zusätzliche starke Verminderung der mentalen Gesundheit.“ Daher gelte es, auch mit Blick auf etwaige Folgen, den Fokus zukünftig noch stärker auf das psychische Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen zu legen, so die Sportwissenschaftlerin.
Mentale Gesundheit hilft bei körperlicher Aktivität
„Unsere Analyse zeigt: Die körperliche Aktivität sowie die mentale Gesundheit von Kindern mit einer guten mentalen Gesundheit vor dem Lockdown haben sich währenddessen sogar verbessert. Die Kinder, die zu den fünf Prozent mit der besten mentalen Gesundheit vor Corona gezählt haben, haben ihre Aktivität während Corona um einen halben Tag mehr gesteigert als Kinder, die vor Corona zu den fünf Prozent mit der schlechtesten mentalen Gesundheit gezählt haben. Nicht nur, dass Kinder vor Corona schon aktiv waren, hilft, auch während des Lockdowns aktiver zu sein, sondern eben auch eine vorherige gut ausgeprägte mentale Gesundheit“, sagt Wunsch. „Wir sehen den Effekt von mentaler Gesundheit auf die Aktivität bei Kindern von vier bis zehn Jahren, aber nicht mehr bei den 10- bis 17-Jährigen. Das könnte möglicherweise auf eine erhöhte Stressbelastung im Homeschooling zurückzuführen sein.“
Die Untersuchung ist Teil der MoMo-Studie, eines gemeinsamen Verbundprojekts von KIT und PHKA, und die erste Längsschnittstudie, die den direkten Einfluss des COVID-19-Lockdowns auf verhaltensübergreifende Zusammenhänge untersucht. Erst kürzlich wurde die Erhebung während des zweiten COVID-19-Lockdowns abgeschlossen. Mittels dieser Daten soll nun die Stärke des Zusammenhanges zwischen mentaler Gesundheit und körperlicher Aktivität quantifiziert werden. Die Forschenden planen, das unterschiedliche Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit eher schlechter und eher guter mentaler Gesundheit zu den einzelnen Messzeitpunkten in Bezug auf deren Aktivitätsniveau zu untersuchen. Die Studie soll auch nach dem COVID-19-Lockdown fortgeführt werden, um die langfristigen Auswirkungen von COVID-19 auf die körperliche Aktivität und deren Zusammenhang mit der körperlichen und psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu analysieren.
Originalpublikation
Kathrin Wunsch, Carina Nigg, Claudia Niessner, Steffen C. E. Schmidt, Doris Oriwol, Anke Hanssen-Doose, Alexander Burchartz, Ana Eichsteller, Simon Kolb, Annette Worth, Alexander Woll: The Impact of COVID-19 on the Interrelation of Physical Activity, Screen Time and Health-Related Quality of Life in Children and Adolescents in Germany: Results of the Motorik-Modul Study. Children, 2021. DOI: 10.3390/children8020098.
Weitere Informationen
Die wissenschaftliche Publikation ist unter https://www.mdpi.com/2227-9067/8/2/98 frei verfügbar.
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