Vom Wissen zum Handeln

Wie Reallabore für einen gesellschaftlichen Wandel zu mehr Nachhaltigkeit sorgen können

Manchmal verhalten wir uns unlogisch: Wir sind gegen Massentierhaltung, kaufen aber billige Fleischprodukte; wir wollen auf die Umwelt achten und gesund leben, fahren aber trotzdem kurze Stecken mit dem Auto, anstatt das Fahrrad zu nehmen. Wir wissen viel, setzen aber vieles davon nicht um – dieser Lücke zwischen Wissen und Handeln widmen sich Reallabore am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und versuchen, sie zu schließen. 

„Wir wollen die Menschen aktiv in unsere Forschung und Entwicklung einbeziehen“, betont der Vizepräsident für Transfer und Internationales des KIT, Professor Thomas Hirth. „Die Gesellschaft fragt immer stärker nach, was wir in der Wissenschaft tun, warum wir es tun und welchen Nutzen unsere Forschung den Menschen bringt. Wir stehen in der Verantwortung, Antworten zu geben. Zugleich benötigen wir die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger, um sicherzustellen, dass die von uns erarbeiteten Lösungen auch gelingen können und nicht am Bedarf der Gesellschaft vorbeigehen.“

Nicht zuletzt deshalb ist der Dialog mit der Gesellschaft auch ein wesentlicher Baustein des Zukunftskonzepts des KIT, mit dem es in der letzten Runde der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder erfolgreich war. Die Umsetzung läuft auf Hochtouren, wie auch das Karlsruher Transformationszentrums für Nachhaltigkeit und Kulturwandel (KAT) zeigt.

Die Titelgrafik des Forschungsmagazins lookKIT zeigt eine Wissenschaftlerin, die sich mit Bürgerinnen und Bürger unterhält. Im Hintergrund sind weitere Personen und ein Assistenzroboter. modus: medien + kommunikation gmbh
Mehr erfahren

Mehr über den Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft sowie den Aktivitäten des KIT zum Wissenschaftsjahr „Nachgefragt!“ können Sie im Forschungsmagazin lookKIT nachlesen.

Zum Magazin

Zwischen Wissen und Handeln liegt das Experiment

„Ein Reallabor ist eine Forschungseinrichtung, in der Wissenschaft und Gesellschaft gemeinsam zukunftsfähige Lösungen entwickeln und ausprobieren“, erklärt Dr. Oliver Parodi, Leiter des KAT. Parodi und sein interdisziplinäres Team interessiert, wie man vom Wissen zum Handeln kommt. „Ohne die Bürgerinnen und Bürger in ihrem Alltag, kommen wir hier nicht weiter“, sagt er. Deshalb gehen Reallabore einen entscheidenden Schritt weiter als traditionelle Forschung und schaffen Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Denn alles beeinflusst sich gegenseitig.

„Reallabore sind eine Form der Kooperation, der fairen Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten, bei der das gegenseitige Lernen in einem experimentellen Umfeld im Vordergrund steht“, ergänzt Professor Armin Grunwald, Leiter des Instituts für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des KIT, an dem das KAT angesiedelt ist. „Lösungen für wichtige Zukunftsfragen kann die Wissenschaft heute nur noch gemeinsam mit der Gesellschaft erarbeiten.“

„Zwischen Wissen und Handeln liegt das Experiment“, sagt Oliver Parodi. Reallabore werden daher immer wichtiger. Unternehmen und Universitäten testen beispielsweise autonome Fahrzeuge oder Transportdrohnen, neue Ideen für die Telemedizin oder die öffentliche Verwaltung. Gleichzeitig leisten Reallabore einen wichtigen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit. Sie ermöglichen es etwa, vielversprechende klima- und umweltschonende Technologien und Produkte, Handlungsweisen und Geschäftsmodelle zu erproben. „Wer die Welt verändern möchte, braucht geschützte, reale Räume zum Tüfteln und Ausprobieren“, so der Forscher.

Wandel erforschen und gestalten

„Wissenschaft und Technik sind notwendig, werden uns alleine aber nicht retten“, ist sich Parodi sicher. Die Umgestaltung zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft und zu einem nachhaltigen Wirtschaftssystem sei vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, bei der alle Verantwortung für die kommenden Generationen übernehmen und aktiv werden müssen. Außerdem funktioniere Wandel schlichtweg nicht, wenn Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik den Menschen einfach nur vorschreiben, wie sie zu leben haben. „Wir müssen gemeinsam nachhaltige Lösungen suchen, erstreiten und erproben.“

Um diese Umgestaltung zu unterstützen, hat das KIT im Februar 2022 das Karlsruher Transformationszentrum für Nachhaltigkeit und Kulturwandel gegründet. „Die Forschenden begeben sich selbst in Transformationsprozesse und sind an diesen beteiligt. So erlangen sie Erkenntnisse, wie sie eine Beobachtung von außen nicht generieren kann“, beschreibt Armin Grunwald. „Es geht nicht nur um Wissen, sondern darum, die Gesellschaft zu gestalten und Forschende sind Teil des Ganzen.“ Ziel sei es, gemeinsam Brücken zu bauen, um gesellschaftliche Grenzen, Einzelinteressen und überkommene Strukturen zu überwinden. „Mit dem KAT schaffen wir eine Institution des Wandels und bringen Themen wie Klimaschutz, Energiewende und eine Kultur der Nachhaltigkeit auf eine praktische Ebene“, so Parodi.
 

Blick von außen in den Zukunftsraum: Zahlreiche Menschen im Gespräch sind durch die Glasfront zu erkennen. KIT
Der Zukunftsraum ist als wichtige Schnittstelle zwischen der Wissenschaft und den Bürgerinnen und Bürgern Teil des Reallabors "Quartier Zukunft - Labor Stadt".
Portrait von Dr. Oliver Parodi Markus Breig, KIT
„Wer die Welt verändern möchte, braucht geschützte, reale Räume zum Tüfteln und Ausprobieren“, sagt Oliver Parodi, Leiter des KAT.

Klimaschutz gemeinsam wagen

Das KAT unterstützt Menschen, Kommunen und Organisationen, die sich auf den Weg in eine nachhaltigere Zukunft machen, bei ihren Wandlungsprozessen und begleitet sie aktiv in ihrer täglichen Arbeit. Neben diversen Hochschulen, Unternehmen und NGOs hat das KAT bereits Städte wie Freiburg, Karlsruhe und Braunschweig bei ihren Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit beraten und begleitet. Die Forscherinnen und Forscher des KAT vermitteln zwischen unterschiedlichen Wertvorstellungen und Denkmustern. Sie bauen Vertrauen auf, Netzwerke aus und entwickeln gemeinsame Visionen.

So geschieht es aktuell auch im Projekt „Klimaschutz gemeinsam wagen!“. Das KAT möchte mit den Menschen in der Karlsruher Oststadt eine Kultur der Nachhaltigkeit etablieren. Für die Bereiche Ernährung, Mobilität und Konsum werden klimafreundliche Alternativen und neue Alltagsroutinen erarbeitet, ausprobiert und erforscht. Es soll einerseits weitgehend Kohlendioxid eingespart und andererseits ein gemeinsames Bewusstsein für Klima- und Umweltschutz geschaffen werden. Dazu gehört auch die Idee, lokale Gastronomie, Kantinen und Mensen auf ihrem Weg zu einem nachhaltigen Betrieb und Essensangebot zu begleiten.

„Die sogenannten Selbstexperimente sind besonders gut angekommen“, berichtet Projektleiterin Sarah Meyer-Soylu. Interessierte konnten testen, wie sich ihr Leben ändert, wenn sie auf Fleisch, gänzlich auf tierische Produkte oder ihr Auto verzichten, wenn sie regional und saisonal einkaufen, bewusst Müll vermeiden oder Strom sparen. 280 Bürgerinnen und Bürger aus Karlsruhe haben bei den Selbstexperimenten mitgemacht, 130 von ihnen haben ihre Experimente dokumentiert, ebenso wie 175 Studierende der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. 

Die aktive Phase der Selbstexperimente ist zwar vorbei, wer aber Lust hat, kann immer noch mitmachen. Zudem können alle, die zukünftig klimafreundlicher mobil sein möchten, Lastenräder bei dem Projekt ausleihen. „Die Räder stehen dem Projekt noch bis Ende September zur Verfügung“, erklärt Meyer-Soylu. „Danach weiten wir den Ausleihkreis auf ganz Karlsruhe aus.“ Insgesamt hat das Projekt mit seinen Aktionen nachgewiesen 330 Tonnen CO₂-Äquivalente eingespart.

„Mit dem KAT haben wir einen wirksamen und sichtbaren Motor für eine zukunftsfähige Entwicklung geschaffen“, fasst Oliver Parodi zusammen. „Wir zeigen, wie ein nachhaltiges Leben und Wirtschaften gesamtgesellschaftlich gelingen kann: Durch Dialog, Interaktion, Wissen und gemeinsames Lernen, durch Partizipation und Moderation sowie im Konfliktfall auch Mediation. Reallabore bieten hier einen fruchtbaren Boden und spannende Gelegenheiten, um vom Wissen zum Handeln zu gelangen.“

Martin Grolms, Timo Schreck
13.07.2022

An einem Tisch sitzen Menschen und diskutieren miteinander. Im Hintergrund steht eine Tafel, auf der „KI und Autonomes Fahren“ steht. Magali Hauser, KIT
Der stetige Austausch mit den Bürgerinnen und Bürgern, wie bei diesem Dialog zum Thema KI im Alltag, ist ein zentrales Element der Reallabore. (Foto: Magali Hauser, KIT)