Rechnen für den Ernstfall
Bereits seit über einem Jahr unterstützen Forschende am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) die ukrainischen Behörden beim Thema nukleare Sicherheit. Das Team um Sadeeb Simon Ottenburger liefert Entscheidungsunterstützung für den Fall, dass es in einem der vier Kernkraftwerke im vom Krieg erschütterten Land zu einem Schaden kommt.
„Nehmen wir den hypothetischen Fall an, dass in einem Kernkraftwerk Radioaktivität austritt“, erklärt der Mathematiker Ottenburger vom Institut für Thermische Energietechnik und Sicherheit (ITES) des KIT. „Dann ist es wichtig zu wissen, wie sich die radioaktive Wolke ausbreitet. Mit unserem System RODOS können wir eine Prognose über den Verlauf der Ausbreitung samt ihren Auswirkungen berechnen und konkrete Maßnahmen hinsichtlich ihrer Effektivität für den Katastrophenschutz bewerten.“
RODOS ist dabei eine echte Erfolgsgeschichte: Die Wurzeln des „Realtime Online Decision Support System“ reichen bis in die frühen 1990er-Jahre. Aus der Taufe gehoben wurde die Software am früheren Kernforschungszentrum Karlsruhe, einer Vorgängereinrichtung des KIT. „Seither ist RODOS zu einem soliden System gewachsen“, freut sich Ottenburger. „Es am Laufen zu halten und weiterzuentwickeln, liegt in Händen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wie uns. Es gibt keine kommerziellen Hintergedanken. Dem System wird seit Jahren vertraut und es ist in über 40 Ländern im Einsatz.“
„Was-wäre-wenn“ im Stundentakt
So auch in der Ukraine. Zu den Verantwortlichen bestand nicht zuletzt wegen des Unfalls im Kernkraftwerk Tschernobyl enger Kontakt. „Es gab bereits ab 2012 einige Projekte mit Unterstützung der Europäischen Kommission“, erzählt Dmytro Trybushnyi, ein Mathematiker und Informatiker aus dem Team von Ottenburger. „Da haben wir das RODOS-System bei verschiedenen Organisationen in der Ukraine installiert und seitdem arbeiten sie damit.“ Nach Kriegsbeginn erhielt er dann gleich mehrere Anfragen. „Einerseits wurden wir gebeten, die Software nochmals auf anderen PCs zu installieren“, erinnert sich Trybushnyi. „Denn der Hauptsitz eines unserer Nutzer ist in Kiew. Als die Stadt bombardiert wurde, kam niemand ins Gebäude rein.“ Die Hilfe aus Karlsruhe kam prompt. Schon kurze Zeit später war die Software über das Netz installiert und eingerichtet.
„Außerdem hat uns das Kernkraftwerk Riwne gebeten, regelmäßige Berechnung für die vier ukrainischen Kernkraftwerke zu definieren“, fährt der Experte fort. Denn spätestens als Europas größtes Kernkraftwerk Saporischschja im Südosten des Landes von russischen Truppen okkupiert wurde und es wiederholt zu Stromausfällen kam, schwebte die Gefahr eines nuklearen Unfalls über dem Land. „Die Verantwortlichen wollten wissen, was passiert, wenn es zu einem mittelschweren oder schweren Unfall kommt“, berichtet Trybushnyi. „Deshalb berechnen wir seit April 2022 jede Stunde ein Szenario, bei dem radioaktives Material in die Atmosphäre austritt.“
Dabei kooperiert das Team aus Karlsruhe eng mit japanischen Forschenden. Diese nutzen ein anderes Entscheidungshilfesystem für die atmosphärische Ausbreitung und stellen ihre Ergebnisse dem KIT zur Verfügung. „Wir vergleichen die Ergebnisse. Denn wenn zwei so unterschiedliche Systeme ähnliche Resultate liefern, erhöht das die Aussagekraft enorm.“
„Grundsätzlich machen wir diese Rechnung für alle Kernkraftwerke, die weltweit in Betrieb sind“, fügt Ottenburger hinzu. Das diene einerseits der Forschung, würde andererseits aber auch helfen, abzuschätzen, inwieweit Zentraleuropa von einer radioaktiven Wolke betroffen sein könnte. „Wir sind zwar aus der Kernkraft ausgestiegen, doch das Thema hört ja nicht an der Grenze auf. Die Wolken können nach einem GAU natürlich auch nach Deutschland ziehen.“ Außerdem sieht er in den Berechnungen eine Art Back-up für Notfälle. Können die Verantwortlichen in einem Land im Falle des Falles nicht auf ihre eigenen Berechnungen zurückgreifen, dann würde das Karlsruher Team ihnen zur Seite stehen.
Komplexe Systeme widerstandsfähiger machen
Während das etablierte Entscheidungsunterstützungssystem RODOS ein Schwergewicht im Krisenmanagement ist, ist die Abteilung RESIS noch recht jung. „Als ich vor etwa einem Jahr die Leitung übernahm, hieß sie noch Abteilung für Unfallfolgen. Wir haben sie dann in Resiliente und Smarte Infrastruktursysteme umbenannt“, erzählt Ottenburger.
Für ihn und sein Team stehen Themen außerhalb der nuklearen Welt im Vordergrund. „Wir beschäftigen uns mit der Frage, wie Nachhaltigkeit und Resilienz in die Planung und Transformation kritischer Infrastrukturen integriert werden können. Da hat man oft mit komplexen Optimierungsproblemen zu tun“, erklärt er. „Zum Beispiel im Rahmen der Energiewende. Oder beim Thema Verkehr. Oder in Smart Citys.“ Es geht also darum, Systeme tolerant und anpassungsfähiger gegenüber Störungen zu machen; zu erkennen, welche Knoten anfällig sind; und was die Konsequenzen eines Ausfalls sein würden.
Das ist besonders deshalb wichtig, da die Verflechtung zwischen Infrastrukturen stetig zunimmt. RESIS will diese Verbindungen modellieren und daraus resilienzerhöhende Maßnahmen ableiten. Wenn es um die Entscheidungsunterstützung geht profitieren die Forscherinnen und Forscher von der jahrzehntelangen Arbeit an RODOS. „Letztendlich suchen wir nach IT-basierten Lösungen. Die können zum einen auf Modellen und Simulationen beruhen, zum anderen auf Algorithmen, Mathematik oder Künstlicher Intelligenz“, sagt Ottenburger. „Das sind die grundsätzlichen methodischen Schwerpunkte. Aber die Fragestellungen beziehen sich auf die Themen Daseinsvorsorge, Resilienz und Nachhaltigkeit.“
Kai Dürfeld, 14.06.2023
Die Abteilung Resiliente und Smarte Infrastruktursysteme arbeitet an Entscheidungshilfesystemen für das Krisenmanagement und der Resilienz moderner Versorgungssysteme.
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